0624 - Die Tränen der Baba Yaga
Hals steckengeblieben. Entgeistert starrte er zur Stollendecke hinauf, streckte beide Hände aus und versuchte, mit seinen Knochenfingern die Decke aufzukratzen.
Was ihm natürlich nicht gelang.
»Was ist los?« fuhr Sid Amos ihn an.
»Es ist weg!« keuchte der Tod.
»Was ist weg?«
»Sein Herz«, erkannte Zamorra.
»Ich habe es gar nicht so hoch geworfen, daß es die Decke hätte berühren können«, sagte der Tod. »Aber es ist plötzlich einfach hindurchgeglitten und kehrt nicht mehr in meine Hand zurück. Ich muß mein Herz zurückhaben!«
»Sei doch froh, daß du den verdammten Steinklumpen los bist«, sagte Amos kalt. »Jetzt hast du wenigstens beide Hände frei. Stell dir nur vor, was du damit anfangen kannst: Du kannst dir zwei Begleiter zugleich auswählen! Und du brauchst nicht mehr zu fürchten, daß dir jemand das Herz aus der Hand fängt und dir wieder in deine Heldenbrust zu stopfen versucht, um dich damit wieder in diese alte Sandsteinkirche zu verbannen.«
»Narr!« zürnte der Tod. »Ich muß es zurückhaben! Um jeden Preis!«
Zamorra runzelte die Stirn. Der Skelettierte war hochgradig erregt. Er schien tatsächlich gewillt zu sein, jeden Preis zu bezahlen. Wozu nach Zamorras Dafürhalten vermutlich auch der Verrat an seinen Begleitern gehörte.
Ein Grund, noch vorsichtiger zu sein als bisher.
Es war ein geschickter Schachzug Fricors, seine Feinde gegeneinander auszuspielen. Auf Anhieb hatte er den Richtigen dafür erwischt.
Nun, sie schienen sich seit langem zu kennen…
»Wir müssen ihn finden«, drängte der Tod. »Er muß mir mein Herz zurückgeben!«
Er schob Amos und Zamorra jetzt energisch vor sich her.
»Langsam!« warnte Zamorra. »Nichts überstürzen - oder möchtest du lieber vorangehen und als erster in eine Falle tappen?«
Er mochte!
Er setzte sich tatsächlich an die Spitze der kleinen Gruppe und stürmte mit einem Tempo voran, daß Zamorra nur noch den Kopf schütteln konnte. Selbst das tanzende, schwebende Flackerlicht, das Sid Amos entzündet hatte, kam mit diesem Tempo kaum mit.
Aber schon nach kurzer Zeit mündete der Stollen in einem großen Höhlenraum, der hell erleuchtet war. Er war angefüllt mit Regalen voller durchsichtiger Gefäße, Einmachgläsern nicht unähnlich. In jedem dieser Behälter schwamm ein menschliches Herz!
Es war eine unwahrscheinlich große Sammlung. Zamorra versuchte zu schätzen, wie viele Herzen hier pochten, von einer unglaublichen Magie in den Gläsern am Leben erhalten. Aber vor dieser Menge mußte er kapitulieren. Es mußten Tausende sein.
Zehntausende.
Und es gab noch Raum für viele weitere Millionen…
Zamorra wagte nicht, sich vorzustellen, welch tragische Schicksale mit dem Umfeld dieser Sammlung verquickt waren. Wie viele falsche Hoffnungen und unerfüllte Träume hier zugrundegegangen waren. Geld, Macht… was hatte ein Mensch davon, wenn er nicht mehr lieben oder hassen konnte? Das Glück, das von materiellen Reichtümern ausging, war nur eitler Schein und Selbsttäuschung. Kaltherzigkeit, Gefühllosigkeit waren das Schlimmste, was Zamorra sich vorstellen konnte. Wer konnte so wahnsinnig sein, alles, was das Menschsein überhaupt ausmachte, für materielle Güter zu opfern?
Offenbar hatte es in all der Zeit, die der Dämon nun schon seinem unbarmherzigen Sammlerhandwerk nachging, genug von ihnen gegeben.
Und alle diese Herzen lebten noch!
Sie alle schlugen noch!
Viele bestimmt schon seit Jahrtausenden!
Beim Anblick all diesen Grauens hatte Zamorra sekundenlang seine Umgebung vernachlässigt. Als er ein Geräusch unmittelbar hinter sich hörte, fuhr er abwehrbereit herum. Aber es war nur Sid Amos.
»Ein fleißiges Bienchen, dieser Fricor«, sagte er sarkastisch. »Wenn es je einem Dämon gelungen wäre, so viele verdammte Seelen zu fangen, wie dieser unscheinbare Knabe an Herzen gesammelt hat, hätte ich zu meiner Zeit immer zufrieden und glücklich sein können…«
»Spar dir deine Bemerkungen«, murrte Zamorra, dem Amos' Worte Unbehagen verursachten.
Unterdessen hetzte der Tod von einem Behälter zum anderen. Er suchte sein Herz.
»Holländer-Michel!« brüllte Amos so unvermittelt los, daß Zamorra sich erschrocken das Ohr zuhielt. »He, Holländer-Michel! Kundschaft! Zeig dich, alter Hallodri!«
»Glaubst du, du wärst hier im Trödler-Laden?« fuhr Zamorra den Ex-Teufel an.
»Sieht doch fast so aus.« Amos wies in die Runde. »Lauter antike Sachen, und sogar ein Skelett für den Schulunterricht, das
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