063 - Das Verrätertor
vor sich hin und leuchtete mit ihrer Lampe zu der einfachen Treppe hinauf. Dann stieß sie die Tür eines kleinen Raumes auf und deckte ein nicht gerade sehr sauberes Bett auf. Ein kleiner Waschständer und ein Stuhl bildeten die ganze sonstige Einrichtung des Zimmers.
»Ich lasse meine Mieter gewöhnlich nicht erst spätnachts herein«, sagte sie. »Aber Sie sind ja den ganzen Tag unterwegs, und da muß ich eben Rücksicht nehmen.«
Sie hatte Mrs. Ollorby nur deswegen als Mieterin angenommen, weil diese ihr erklärt hatte, daß sie den Raum zwischen neun Uhr morgens und sechs Uhr abends nicht gebrauchen würde. Dadurch hatte die Wirtin weniger Arbeit, das heißt, in Wirklichkeit machte sie ein doppeltes Geschäft, da sie tagsüber den Raum einem Nachtwächter von den Docks überließ.
In diesem kleinen Haus beherbergte die Wirtin sieben Leute. Sie wartete noch immer in der Tür und hatte ihre schmutzigen Hände über der Schürze gefaltet. Sie war wenig freundlich und erklärte Mrs. Ollorby, daß sie jetzt sehr beschäftigt wäre, weil ihre drei regulären Mieter in der Stadt seien.
»Ich möchte die Herren um alles in der Welt nicht kränken«, sagte sie. »Manchmal sind sie neun oder gar zehn Monate fort, aber die Miete wird so pünktlich bezahlt, wie ein Uhrwerk geht… Es sind Seeleute – der eine ist Schiffskapitän, die anderen beiden seine Söhne… Ein guter Mann, wie man ihn besser auf der Welt nicht finden kann, das heißt, wenn er nicht gerade betrunken ist.«
Diese bevorzugten Mieter hatten zusammen zwei Räume. Der Kapitän bewohnte den besten davon.
»Was ich Ihnen noch sagen wollte… Wie ist doch Ihr Name – ?«
»Ich heiße Brown«, sagte Mrs. Ollorby.
»Auf eines müssen Sie achten«, sagte die Frau. »Dem Kapitän dürfen Sie nicht in den Weg kommen. Er ist sehr kurz angebunden, und ich will ihn nicht vor den Kopf stoßen, nicht für eine Million.«
Als die Wirtin gegangen war, setzte sich Mrs. Ollorby auf das Bett und vertrieb sich die Zeit dadurch, daß sie ein Buch bei dem Licht einer kleinen Taschenlampe las, die sie aus ihrer Tasche genommen hatte. Nach geraumer Zeit hörte sie die unsicheren Schritte des Kapitäns auf der Treppe. Mit betrunkener Stimme sang er einen Gassenhauer. Seine eisenbeschlagenen Schuhe polterten auf dem kleinen Podest, dann schlug er die Zimmertür zu, daß das ganze Haus wackelte. Mrs. Ollorby lauschte und wartete auf die Ankunft der beiden Söhne. Aber die kamen noch nicht. Nach einer Weile hörte sie, wie der Kapitän die Tür wieder öffnete und hinunterging. Als er das Haus verlassen hatte, legte sie ihr Buch beiseite, öffnete leise die Tür und horchte. Es herrschte tiefe Stille, kein Laut war vernehmbar. Die Wirtin hatte sich in die Küche zurückgezogen, wo sie auf einem erbärmlichen Feldbett schlief. Vom Erdgeschoß drang das Schnarchen eines Mieters herauf…
Sie zog ihre Schuhe aus und schlüpfte dafür in dicke Filzpantoffeln. Geräuschlos schlich sie über das Podest, stieg die wenigen Stufen in die Höhe, die zu dem oberen Treppenabsatz führten, und versuchte, die Tür des Kapitäns zu öffnen. Sie war nicht verschlossen. Schnell ging sie in den Raum und drehte das Licht an.
Das Zimmer war nur ein wenig besser möbliert als ihr eigenes. Eine Kleidertruhe und ein kleiner Tisch standen darin. Dieser wurde anscheinend als Schreibtisch benutzt, denn es lag eine Menge von Papieren verstreut auf der Platte. Ein kleines, billiges Tintenfaß und eine Unterlage aus dünnem Löschpapier fanden sich daneben. Schnell sah sie die Schriftstücke durch und erkannte, daß es Listen von Schiffsvorräten waren, die der Kapitän offensichtlich vor einigen Tagen eingekauft hatte. Sie durchsuchte das Bett genau, drehte das Kissen um und entdeckte einen flachen, abgenutzten Kasten zum Aufbewahren von Schriftstücken. Sie öffnete ihn, fand aber weiter nichts als ein Blatt Papier, das mit Zahlen bedeckt war. Sie hatte genügend Kenntnisse von der Schiffahrt, um zu erfassen, daß es sich um eine Schiffahrtstabelle handelte, die der Kapitän ausgearbeitet hatte. Zu jeder Position hatte er das Datum geschrieben. Das erste Datum war der 26. des Monats, und dahinter war ein merkwürdiges Zeichen angebracht.
Sie legte das Papier an seine Stelle zurück und suchte weiter. Plötzlich hörte sie laute Stimmen außerhalb des Fensters auf der Straße, und gleich darauf vernahm sie, wie die Haustür aufgeschlossen wurde. Mit überraschender Geschwindigkeit verließ sie
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