063 - Das Verrätertor
den Raum, schloß die Tür und war bereits in ihrem eigenen Zimmer, als die Leute unten die erste Stufe erreicht hatten.
Diesmal war der Kapitän nicht allein. Zwei Mann begleiteten ihn. Sie gingen in das Zimmer des Kapitäns und schlossen leise die Tür. Mrs. Ollorby hörte, wie sie sich mit gedämpfter Stimme unterhielten. Geräuschlos schlich sie sich hinaus. Die niederträchtigen Treppenstufen krachten unter ihrem Gewicht. Sie beugte den Kopf nach vorn und lauschte. »… Dieser Mann – wie heißt er doch – Warring oder so ähnlich – der Kerl sagte… Gravesend… Flutzeit…«
Jemand ging quer über den Fußboden. Eilig huschte sie zurück in ihr Zimmer und horchte hinter der angelehnten Tür. Das war eine gefährliche Sache in diesem Haus, wo jedes Bett unter ihrer Schwere krachte. Nach einer Viertelstunde hörte sie zwei der Männer herauskommen und in einen anderen Raum gehen. Noch ein rauhes gute Nacht, dann war alles ruhig. Sie schloß ihre Tür behutsam und legte sich angekleidet auf das Bett. Einige Minuten später schlief sie fest.
Am Morgen wurde sie durch das Gepolter geweckt, das der Kapitän verursachte, als er die Treppe hinunterging. Kurz darauf folgten ihm seine beiden Söhne. Es war heller Tag. Mrs. Ollorby machte schnell Toilette und begab sich dann auch auf die Straße. Sie frühstückte in einer kleinen Kaffeestube an der Ecke der Victoria Dock Road. Eine halbe Stunde später stand sie auf einer zugigen Werft und beobachtete mit großem Interesse einen kleinen, verrosteten Dampfer, der mitten im Strom vor Anker lag. Ein Kerl, der sich am Wasser herumtrieb, kam auf sie zu. Er witterte, daß er sich eventuell ein kleines Trinkgeld verdienen könnte. Damit hatte er auch recht, denn er konnte Mrs. Ollorby über alles mögliche informieren.
»Missie – wollen Sie zu dem kleinen Schiff dort hinausfahren? Ich kann Ihnen in fünf Minuten ein Boot beschaffen!«
»Nein«, sagte sie, »ich will nicht hinfahren.«
»Haben Sie Verwandte an Bord?« fragte der Mann, der sich nützlich machen wollte. »Vielleicht wollen Sie einen Brief dorthin schicken?«
»Was ist das für ein Kasten?« fragte Mrs. Ollorby.
»Das ist die >Pretty Anne Das war also die Geschichte der >Pretty Anne Dieser Kapitän hatte wirklich Glück, denn er war zweimal dem Zuchthaus mit knapper Not entronnen. Einmal war er angeklagt wegen vorsätzlichen Schiffbruchs und das zweitemal wegen Saccharinschmuggels.
»Ob ich ihn kenne?« Der Mann spuckte verächtlich ins Wasser. »Ich darf wohl sagen, daß es so ist. Aber wer kennt Eli nicht? Er ist ein ganz gemeiner Lump. Er heuert keine weißen Leute, sondern nur indische Matrosen und so ein Gemisch von Leuten, von denen man zehn für einen Penny kriegt. Er hat Geld dadurch verdient, daß er den Amerikanern Koks und dergleichen nach drüben brachte. Und er macht Geld mit allen möglichen schmutzigen Geschäften. Er bekommt niemals eine richtige Ladung, weil keiner der Auftraggeber die Versicherungssumme für das Schiff bezahlen will.«
Mrs. Ollorby schaute sich das Schiff mit neuerwachtem Interesse an. Ein wunderlicher Kasten mit einem Rumpf, dessen Farben vollständig verblichen waren, und einem ungewöhnlich hohen Vorderdeck mit starkem Mast. Das Schiff schien ganz ohne Proportion zu sein. Es war schrecklich verwahrlost, schmutzig und rostig. Die Farbe des Schornsteins blätterte ab. Man hätte seine ganze äußere Erscheinung für Tarnung halten können.
»Der Alte führt sie, einer von seinen Söhnen hilft ihm dabei, und der andere hat den Maschinenraum unter sich. Im ganzen hat er nur sechs Mann an Bord.«
»Unter welcher Flagge fährt er?« Mrs. Ollorby interessierte sich für das kleine, schmutzige, viereckige Stoffstück, das am Flaggmast
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