0631 - Die Bluteulen
kein Irrtum gewesen. Die Eule lag vor ihr, weil sie tatsächlich im Flug abgeschossen war, denn in ihrer Körpermitte steckte ein langer Pfeil.
Aber das war nicht alles.
Genau dort, wo sich der Kopf des Tieres befinden musste, sah sie zwar die Umrisse. Sie stimmten auch mit denen eines Eulenkopfes überein, dennoch zeigte sich eine makabre Veränderung.
Unter einem dünnen Gefieder schimmerte bleich und hässlich ein Totenschädel…
***
Bettina Constanza verstand die Welt nicht mehr!
Sie sah den Schädel und sah ihn trotzdem nicht. Die junge Frau kniete im Gras. Die Feuchtigkeit des Bodens drang durch den Stoff der ausgebleichten Jeans, nur kümmerte sie sich darum nicht, weil ihre Blicke einzig und allein dem sich unter dem dünnen Gefieder abzeichnenden Schädel galten.
Ein bleiches Gerüst aus Knochen mit sogar leeren Augenhöhlen, wie sie fand.
Natürlich drehten sich ihre Gedanken um den Grund. Sie ging davon aus, dass die Eule schon vor ihrem Tod mit einem derartigen Schädel gezeichnet worden war, aber das musste auch ein Motiv gehabt haben, und das wollte sie finden.
Es kostete sie Überwindung, sich nach vorn zu beugen und den rechten Arm auszustrecken. Für eine Weile schwebten ihre Fingerspitzen noch über dem Schädel, dann krümmte sie die Hand und tastete nach dem Gefieder.
Sie bekam Kontakt, alles lief glatt, bis sie die Finger etwas stärker bewegte.
Da zerbröselte das Gefieder unter dem leichten Druck zu Staub oder Asche. Sie selbst drang mit ihren Händen durch und strich über das bleiche Knochengerüst des Eulenschädels.
Bettina senkte den Kopf. Sie wusste nicht mehr, was sie tun sollte. Die Welt hatte sich für sie innerhalb einer Minute auf den Kopf gestellt.
Was stimmte da nicht?
Wer war diese Eule, die einen Totenschädel hatte, und wer hatte sie abgeschossen?
Die junge Frau war dermaßen stark mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie weder die schlanke Gestalt sah noch die Tritte hörte, die sich ihr näherten.
Jemand kam, der zuvor im Gras gehockt und dort in sicherer Deckung gelauert hatte.
Die Bewegungen der Gestalt waren fließend und geschmeidig. Sie schien über den Boden zu schweben und malte sich hoch aufgerichtet innerhalb der Dunkelheit ab.
Dann schlug sie einen kleinen Bogen, weil sie in den Rücken der hockenden Frau gelangen wollte.
Dicht hinter ihr blieb sie stehen. Zwei Sekunden vergingen. Sie schaute auf den Nacken der Rumänin und sagte dann mit leiser Stimme: »Ich glaube, wir sollten miteinander reden…«
Bettina hörte die Stimme. Sie riss sie hervor aus ihrer gedanklichen Welt, und sie fuhr mit einem Schrei auf den Lippen blitzschnell in die Höhe.
Noch im Sprung drehte sie sich um. Nun schaute sie die Person an und wollte nicht glauben, dass es so etwas gab.
Vor ihr stand eine Frau. Gekleidet in Leder, mit einer Halbmaske das Gesicht in der oberen Hälfte verdeckt und über der Schulter eine Armbrust und auf dem Rücken einen mit Pfeilen gespickten Köcher…
Es war Shao!
***
»Nein!«, rief Bettina, wich zurück, spürte unter ihrem Fuß etwas Weiches, wobei ihr einfiel, dass es sich um den Körper der toten Eule handeln musste.
Bevor sie den Fuß noch wegziehen konnte, hörte sie das leise Knacken, mit dem die Knochen des Eulenkopfes zerbrachen.
Hastig sprang sie einen weiteren Schritt zurück, bevor sie sich wieder fing und die Maskierte anstarrte.
»Wer bist du?« Bettina wunderte sich selbst darüber, dass sie es schaffte, die Worte zu formulieren.
»Ich heiße Shao.«
»Wie?«
Die Lippen der Fremden verzogen sich zu einem Lächeln. »Es ist ein chinesischer Name.«
»Dann kommst du nicht von hier?«
»Nein.«
»Woher denn?«
»Das ist eine lange Geschichte. Vielleicht erzähle ich sie dir, Bettina.«
»Du kennst meinen Namen?«
»Natürlich.«
Bettina musste schlucken. »Wieso denn? Und weshalb hast du die Eule getötet? Sie hat mir nichts getan. Weshalb, verdammt, musste sie denn sterben?«
»Sollen wir darüber nicht im Sitzen sprechen? Du hast vorhin auf der Bank gesessen. Ich finde, dass es ein guter Platz ist. Komm, wir unterhalten uns dort.«
»Was sollte mich dazu bringen, mich mit einer Mörderin zu unterhalten? Sag mir das!«
»Der reine Menschenverstand. Ich will dir nichts tun. Ich habe dich möglicherweise gerettet.«
Bettina lachte kreischend. »Vor der Eule etwa?«
»Zum Beispiel.«
Bettina schüttele den Kopf. »Nein, die Eulen sind meine Freunde, meine Beschützer und nicht meine Feinde.«
»Das mag
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