065 - Der Geisterreiter
Galopp um die Hüften. Ein schwerer Ruck, dann warf sich der Fürst nach links, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. In den Angstschrei des Mädchens und das geifernde Kläffen vieler Hunde mischte sich sein dunkles, rauhes Gelächter.
„Jetzt haben wir jemanden, der für uns kocht!“ schrie er seinem Hauptmann zu und rammte die Fersen nach hinten. Das Pferd unter ihm streckte sich, der Galopp wurde schneller und raumgreifender. Schließlich jagten die beiden Reiter, in den Bügeln stehend, tief über die Hälse der Tiere gebeugt, aus dem Bereich der letzten Lampe hinaus.
Torras von Nyrmada wandte sich um. Hinter ihnen kläfften die Hunde wie besessen, doch niemand verfolgte sie. Er lachte wild. In seinen Augen glitzerte der Triumph.
„Ein guter Beutezug, Herr!“ rief Sheng, der inzwischen aufgeholt hatte.
„Das war erst der Anfang, Sheng!“ erwiderte der Hunnenfürst. „Mit den Feuerrohren haben wir an Macht gewonnen!“
Es war ihr fünfter Raubzug. Auch heute hatten sie blitzschnell zugeschlagen, ohne ihren Gegnern auch nur die geringste Chance zu einer Verteidigung zu lassen. Sie durften kein Risiko eingehen, wenn es ihnen beiden gelingen sollte, die Macht über viele Menschen zu erringen. Die erbeuteten Waffen würden ihnen das Vorhaben erleichtern.
„Wir brauchen Zeit, die Waffen auszuprobieren!“ rief Torras, der inzwischen in einen Feldweg eingebogen war und das Tempo verringert hatte. „Sie sind anders als unsere Pfeile und Lanzen, und wir müssen erst lernen, damit umzugehen!“
„Richtig, Herr!“ gab Sheng zu.
In gemäßigtem Galopp ritten die beiden Krieger durch die Felder. In der Ferne, etwa fünf Kilometer hinter der Stadt, lag ihr Ziel. In einem Gürtel aus Wäldern, Moorflächen, Felsgeröll und schmalen, tief eingeschnittenen Tälern lag die Ruine der Woffelsburg. Sie lag gut versteckt und nur schwer zugänglich für Menschen, die gewöhnt waren, mit dem Auto zu fahren. Dort verbargen sich die Krieger.
In den nächsten Tagen hörte man hin und wieder einen Schuß aus dieser Richtung, aber wer achtete schon darauf, wenn ein Förster auf der Jagd war?
Ein schrilles Klingeln riß mich hoch. Endlich begriff ich, woher es kam. Schlaftrunken nahm ich den Hörer ab.
„Ille Wachholz“, meldete ich mich.
Eine erregte Stimme überschüttete mich mit einem hastig hervorgesprudelten Wortschwall. Erst nach einigen Sätzen wurde mir der Sinn des Gesagten bewußt.
„Meine Eltern?“ flüsterte ich erschreckt und fühlte, wie mein Herz hart und schnell schlug.
„Entschuldigen Sie, ich hätte Sie vielleicht nicht so überfallen sollen“, kam es aus der Leitung. „Aber ich dachte …“
„Was ist mit ihnen?“ unterbrach ich den Mann ungeduldig. „Sie sind auf dem Weg hierher!“ Eine furchtbare Ahnung stieg in mir hoch. Plötzlich fühlte ich mich schwach. Ich setzte mich auf die breite Lehne des Sessels.
„Stimmt“, sagte der anonyme Anrufer. „Jemand hat draußen auf der Straße nach Sammerath einen Baum über die Fahrbahn gelegt. Der Wagen mit Ihren Eltern ist verunglückt.“
Ich schwieg einige Sekunden lang und fühlte, wie meine Haut eisig kalt wurde.
„Mein Gott“, sagte ich. „Was ist passiert? Leben sie …?“
Der Anrufer, vermutlich ein Polizist – schien mich beruhigen zu wollen. Er sagte hastig und etwas zu laut:
„Ja, sie leben. Beide. Ihre Mutter hat nur einige Rippenbrüche und eine Gehirnerschütterung und vermutlich viele blaue Flecken, wenn sie aus dem Krankenhaus entlassen wird. Ihr Vater, bei ihm ist es etwas ernster. Im Augenblick kann der Arzt noch nichts Genaues sagen.“
„Sind sie im Krankenhaus …?“ flüsterte ich. Mir war übel vor Angst und Schrecken.
„Ja. Ihre Eltern sind dort gut aufgehoben. Es ist sinnlos, hinzufahren, Fräulein Wachholz. Man läßt Sie sowieso nicht ins Krankenzimmer. Aber wir würden Sie bitten, uns zu helfen. Könnten Sie zu uns herauskommen? Es sind fünf Kilometer, die Bundesstraße nach Sammerath entlang. An der Brücke über die Blanke Kyll treffen Sie uns!“
„Gut, ich komme“, sagte ich. „In einer halben Stunde!“
„Danke. Sie würden uns wirklich sehr nützen. Und – entschuldigen Sie bitte die Störung mitten in der Nacht. Wir hätten nicht, wenn …“
Vor Aufregung begann er zu stottern. Ich legte den Hörer auf und begann nachzudenken. In dieser Nacht hatten wir Vati und Mutter erwartet.
Ich riß mich zusammen, zog mich schnell an und weckte Jürgen, der in unserem
Weitere Kostenlose Bücher