065 - Rendezvous mit dem Sensenmann
Coco eine alte Frau in einem Baldachinbett liegen.
Sie konnte nicht erkennen, ob es Lucia, Alma, Camilla oder Sabrina war. Lautlos schloß sie die Tür wieder. Hinter der nächsten Tür hörte Coco leises Gemurmel, als spräche jemand im Schlaf. Und hinter der übernächsten Tür sprach der Diener Octave. Mit leiernder Stimme erstattete er Bericht über einen Schaden am Dach, der ausgebessert werden mußte.
„Ich werde nachher einen Handwerker in der Stadt anrufen", antwortete Camilla.
Im nächsten Zimmer schnarchte jemand. Coco schmiegte sich in die Türnische, als eine Tür geöffnet wurde und Octave auf den Gang trat. Seine ungeschlachte Gestalt entfernte sich. Coco atmete auf.
Sie versuchte, das Alter der vier alten Frauen zu schätzen. Sie waren wohl Mitte Siebzig bis Anfang Achtzig. Für ihr Alter waren sie noch sehr rüstig.
Nun erreichte Coco die letzte Tür an diesem Flur. Hier regte sich nichts, und die Stille erschien Coco bedrückend. Vorsichtig drückte sie die Klinke nieder, öffnete die Tür einen Spalt und blickte in den Raum. Es war ein hohes, altertümlich eingerichtetes Zimmer.
Ein elektrischer Heizkörper verbreitete eine ungesunde Wärme. Bücherregale nahmen die Wände ein, und in der Mitte des Raumes stand ein Schreibtisch. Vor dem Schreibtisch, mit dem Rücken zu Coco und mit dem Gesicht zum Fenster, saß ein Mann auf einem Lehnstuhl. Coco konnte nur die schlohweiße Haarmähne und die verrunzelte Hand mit dem großen Ring auf der Stuhllehne sehen. Ein aufgeschlagenes Buch lag vor dem Mann auf dem Tisch. Zu seinen Füßen schlief eine fette schwarze Katze auf dem Teppich.
Der Mann mußte Stanislas Beaufort sein. Cocos Neugier war größer als ihre Vorsicht. Endlich hatte sie Gelegenheit, den sagenumwobenen Magier, der bereits 1947 gestorben sein sollte, von Angesicht zu Angesicht zu sehen.
Coco wollte sich nun in einen schnelleren Zeitablauf versetzen. Sie schloß die Augen und konzentrierte sich. Ihr Gehirn bildete die magischen Gedankenketten, die den Effekt erzielen sollten.
Da überkam sie plötzlich ein Schwächegefühl. Ein ferner Gedankenimpuls durchstieß ihre Konzentration. Ein leiser, verwehter Schrei, Empfindungen, Bruchstücke von Sätzen, geformt vom Gehirn eines Kleinkindes.
Coco wankte. Sie mußte sich am Türstück festhalten.
Ausgerechnet in diesem Moment meldete sich ihr Sohn, das Baby, dessen Vater der Dämonenkiller war. Coco war mit ihrem Kind auf übernatürliche Weise verbunden. Manchmal kam ein telepathischer Kontakt zustände, kurzfristig und ohne besonderen Anlaß.
Er schwächte Coco immer sehr.
Das Baby konnte noch nicht reden, aber Coco spürte, daß es Hunger hatte und trockengelegt werden mußte. Es schrie und war verwirrt. Da war eine Frau, die sich immer um ihn kümmerte, aber der Säugling wußte, daß sie nicht seine Mutter war.
Seine Mutter, das war die Frau, die ihn manchmal besuchte während der Zeitabläufe, die sich in Wachen und Schlafen, Heil- und Dunkelperioden teilten. Seine Mutter, das waren zärtliche, warme Gedanken in seinem kleinen Gehirn, das war Trost, Sicherheit und Geborgenheit.
Der Säugling greinte.
Coco dachte jetzt nur an ihr Kind. Stanislas Beaufort und die Gefahr waren vergessen.
„Keine Angst, mein Kleiner", flüsterte Coco dem Kind zu. „Gleich kommt deine Pflegemutter. Schrei nur tüchtig, damit sie dich hört und deine Lungen stark werden. Kleine Unpäßlichkeiten gehören zum Leben, mein Kind. Daran mußt du dich gewöhnen."
Sie dachte Gedanken des Trostes, und sie wünschte, bald wieder bei ihrem Kind zu sein. Sie hatte es an einem sicheren Ort unterbringen müssen.
Niemand durfte wissen, wo der Säugling war, nicht einmal Dorian Hunter. Sonst hätten die Schwarze Familie und andere, unabhängige Dämonen dem unschuldigen Kind vergolten, was seine Eltern, der Dämonenkiller und die abtrünnige Hexe Coco Zamis, ihnen zugefügt hatten. Oder sie hätten den Säugling entführt und als Druckmittel benutzt.
Coco spürte noch, wie eine Frau sich über die Wiege beugte und das Kind herausnahm. Dann brach der Gedankenkontakt ab. Das Kind wurde jetzt versorgt und dachte nicht mehr so intensiv und drängend an seine ferne Mutter.
Jäh kehrte Cocos Geist in ihre nähere Umgebung mit all ihren Gefahren und Geheimnissen zurück. Der schwarze Kater hatte sich aufgerichtet, machte einen Buckel und fauchte sie an.
Sein im Stuhl sitzender Herr aber rührte sich nicht.
Eine Tür wurde geöffnet. Coco hörte den scharfen
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