065 - Rendezvous mit dem Sensenmann
gab Coco Schnüre, Draht, eine Schere und eine Zange.
„Zweige und Blumen finden Sie im Park zur Genüge", sagte er mürrisch. „Wenn Sie sonst noch etwas brauchen, wenden Sie sich an mich. Machen Sie am besten zuerst den Kopf. Dafür gebe ich Ihnen ein Kopftuch. Pfuschen Sie nicht. Die vier alten Damen legen Wert auf exakte Ausführung." „Wozu sollen diese Vogelscheuchenpuppen denn gut sein?"
„Was weiß ich? Es ist eine Marotte von den alten Damen, und ich meine, daß es das mindeste ist, was Sie für Kost und Logis tun können."
Jean ging davon. Coco betrachtete nun die anderen Vogelscheuchen. Es war ihr sofort aufgefallen, daß die von Arlette fehlte. Hing das damit zusammen, daß das unglückliche Mädchen aus der Villa fortgejagt worden war? Oder damit, daß sie tot war? Noch wußte Coco es nicht.
Juan-les-Pins hatte seinen Namen von den vielen Kiefern, die hier wuchsen. Meergeruch vermischte sich mit Waldesduft. Der Ort lag malerisch an den Hängen des Küstengebirges, und schon auf den ersten Blick begriff ich, was diesen mondänen Bade- und Winterkurort so beliebt machte.
Ich fragte zweimal nach dem alten Friedhof. Hinter Juan-les-Pins fand ich ihn in den Hügeln.
Eine hohe Mauer umgab den Friedhof. Sie war grau und verwittert. Das Eingangstor war verrostet und quietschte in den Angeln. Der Friedhof selbst wirkte ungepflegt, und es fiel mir auf, daß sakrale Symbole fehlten. Hier wurden anscheinend die Leute beerdigt, die nichts mit der Kirche zu tun haben wollten oder die man aus irgendwelchen Gründen nicht auf den anderen Friedhöfen bestatten wollte.
Verrufene, Menschen, die zu Lebzeiten verhaßt waren und gemieden wurden, unbekannte Fremde und Verbrecher. Es war sicher nicht leicht, für einen solchen Friedhof einen Wärter zu finden.
Ich machte mich auf die Suche nach Adolphe Guiata. Im Häuschen des Friedhofswärters fand ich ihn nicht. Aber ich sah durch das Fenster etwas anderes, das mir nicht gefiel.
Adolphe hatte die Kammer, in der sein einfaches weißes Feldbett stand, mit seltsamen und makabren Bildern tapeziert. Auf ihnen waren Leichen gemalt, abgedruckt oder fotografiert. Reproduktionen von Werken bekannter Künstler hingen neben Darstellungen von Schlachtfeldern und Fotografien von Unfallorten und Katastrophen, Brandopfer neben Verstümmelten und Opfern von Sittlichkeitsverbrechen.
Die Menschen auf den Bildern hatten alle eines gemeinsam. Sie waren tot.
Jetzt verstand ich, weshalb Adolphe Guiata so verrufen war. Eine solche Schwärmerei für den Tod und den menschlichen Leichnam mußte einen Menschen unsympathisch machen.
Ich suchte den Friedhof ab.
Zuerst stieß ich auf die Gruft des Stanislas Beaufort. Ein viereckiges Fundament aus Felsquadern, das von einem schwarzen Monolithen gekrönt wurde. Ich las die Inschrift auf dem Monolithen. „Dem Herrscher der Finsternis" lautete sie. Meinte Beaufort damit den Satan oder den Fürsten der Schwarzen Familie, oder hatte er sich selber ein Denkmal setzen wollen? Ich hätte viel darum gegeben, wenn ich gewußt hätte, ob Stanislas Beauforts sterbliche Überreste tatsächlich in diesem Mausoleum lagen.
Ein paar Reihen weiter befand sich ein frischer Grabhügel. Kein Kranz lag darauf, kein Stein bezeichnete ihn. Aber frische Schleifspuren waren zu erkennen. Und noch etwas anderes.
Blut! Es klebte an Grashalmen und Steinen. Ich mußte an das Mädchen Arlette denken, das aus der Villa Daimon gejagt und von einer Grauensgestalt mit goldener Sense verfolgt worden war.
Lag Arlette unter dem frischen Grabhügel?
Ich wollte mir Gewißheit verschaffen. Kurz entschlossen holte ich Spaten und Schaufel aus dem offenen Geräteschuppen des Friedhofswärters und begann zu graben. In der Mittagshitze lief mir der Schweiß in Strömen herunter. Bald war meine Hose durchnäßt. Das Hemd hatte ich längst ausgezogen.
Der Erdhügel neben dem Grab wuchs immer höher. Dann stieß .die Schaufel mit dumpfen Ton auf etwas Hartes. Holz.
Der Sarg war vernagelt, doch mit dem Spaten brach ich ihn auf. Knarrend lösten sich die Nägel aus dem Holz.
Ich staunte. Der Sarg war leer. Als ich den Kopf hineinsteckte, stieg mir kräftiger Schwefelgeruch in die Nase. Der Sarg war ohne jeden Zweifel gereinigt und dann ausgeschwefelt worden. Als ich genauer hinsah, bemerkte ich noch ein paar verwischte Blutspuren.
Wozu hatte diese Prozedur stattgefunden? Was bedeutete das alles?
Adolphe Guiata sollte mir diese Frage beantworten. Schließlich war er der
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