065 - Rendezvous mit dem Sensenmann
Ruf einer Frauenstimme. Es war ihr jetzt nicht möglich, sich in den schnelleren Zeitablauf zu versetzen. Sie war viel zu geschwächt und verwirrt. Sie wandte den Kopf.
Camilla stand im Flur, und jetzt trat auch Lucia aus der Tür.
„Was machst du da, Coco?" gellte die alte Camilla.
Sie trug einen brokatenen Hausmantel. Lucia war im Schlafrock und hatte eine Nachthaube auf dem Kopf.
„Ich - ich wollte zu Ihnen, Madame Camilla", stammelte Coco.
Die Alte schoß auf sie zu wie eine Furie, stieß sie mit ungeahnter Kraft von der Tür weg und schloß diese hart. Sie funkelte Coco an. Einige Augenblicke sah es so aus, als wolle sie die junge Frau schlagen.
„Was fällt dir ein, hierherzukommen und Monsieur Beaufort zu stören? Los, gib mir eine Antwort! Ich will eine Erklärung für dieses unerhörte Verhalten!"
Coco tat, als sei sie sehr verlegen.
„Ich hatte keine Ahnung, daß ich dieses Zimmer nicht betreten durfte. Ist Monsieur Beaufort denn schwer krank? Oder weshalb darf er keinen Menschen sehen?"
„Die Fragen stelle ich. Antworte mir!"
„Nun, ich wollte eigentlich mit Ihnen oder mit einer von Ihren Schwestern über die Vogelscheuche sprechen. Wissen Sie, ich bin Ihnen so dankbar, daß Sie mich umsonst hier wohnen lassen, mich verpflegen und mir soviel bieten. Deshalb wollte ich eine besonders schöne Vogelscheuche herstellen, und ich hätte gern gewußt, ob Sie oder Ihre Schwestern besondere Wünsche haben. Ich wollte Ihnen eine Freude machen."
Camilla und Lucia, die ebenfalls näher getreten waren, musterten Coco mißtrauisch.
„Ist das der wirkliche Grund? Wolltest du nicht etwa spionieren?"
Coco machte große, runde Augen.
„Spionieren? Ich? Weshalb sollte ich das? Nein, ich kam nur, um mit Ihnen zu reden, und ich klopfte auf gut Glück zuerst an dieser Tür an. Wenn ich geahnt hätte, daß ich etwas Verbotenes tue, wäre ich nicht hierhergekommen."
„Weshalb hast du dich nicht an Octave, Nanette oder Jean gewandt und dich anmelden lassen?" fragte Lucia.
„Ich habe mir nichts dabei gedacht, herzukommen. Entschuldigen Sie vielmals, ich werde es gewiß nicht wieder tun. Ich hoffe, ich habe Monsieur Beaufort nicht erschreckt."
„Monsieur ist schon beinahe neunzig und ein wenig wunderlich", sagte Camilla. Nun steckte auch die alte Sabrina den Kopf aus der Tür. „Er will keine fremden Menschen kennenlernen und keine neuen Gesichter um sich herum haben. Wir haben versucht, ihm das auszureden, aber er läßt sich nicht umstimmen. Wahrscheinlich ist Eitelkeit mit im Spiel. Er will nicht, daß ihn die jungen Mädchen aus der Nähe sehen, alt und gebrechlich, wie er ist."
Camilla sprach leise, als ob Monsieur Beaufort sie nicht hören sollte.
„Wir müssen auf seine Wünsche Rücksicht nehmen. Er ist ein sehr guter und großherziger Mensch. Da muß man seine kleinen Marotten übersehen. Früher war er ein großer Salonlöwe. Er beobachtet euch junge Mädchen oft und freut sich, wenn es euch gutgeht."
„Ich wußte nicht, daß es sich so verhält, Madame Camilla". flüsterte Coco. „Bitte richten Sie Monsieur Beaufort aus, daß ich mich entschuldige. Ich werde auch nicht mehr unangemeldet herkommen. Darf ich jetzt gehen?"
„Ja, Kindchen, geh. Und tu nicht wieder so etwas."
Camilla zog Coco am Ohr wie eine strenge Lehrerin. Die junge Frau ließ es sich gefallen. Als sie sich ein paar Schritte entfernt hatte, drehte sie sich noch einmal um.
„Was ist nun mit meiner Vogelscheuche? Haben Sie besondere Wünsche?"
„Nein, Coco. Fertige sie so an, wie du es für richtig hältst. Wir sollen in eure Arbeit nicht hineinreden. Das hat Monsieur Beaufort befohlen. Wenn man sieht, daß du dir Mühe gegeben hast, dann sind Monsieur und wir schon zufrieden."
Coco nickte und ging davon. Immer noch mißtrauisch sahen die drei Alten der schlanken jungen Frau nach, die sich mit wiegenden Hüften entfernte. Coco suchte ihr Zimmer auf. Sie war aufgeregt, und ihr Herz klopfte.
Sie war gerade noch einmal davongekommen.
Sie hätte viel darum gegeben, wenn der paraphysische Kontakt mit ihrem Baby ein wenig später zustandegekommen wäre. Dann hätte sie in das Gesicht und in die Augen des Mannes im Lehnstuhl blicken können.
Am Nachmittag, nachdem ich den alten Friedhof von Juan-les-Pins aufgesucht hatte, fuhr ich zum Strand des nahe gelegenen Ortes Golfe-Juan. Dort mietete ich für zehn Francs einen Liegeplatz unter einem der zahlreichen Sonnenschirme. Viel Hunger hatte ich in der Hitze nicht. Ich
Weitere Kostenlose Bücher