065 - Rendezvous mit dem Sensenmann
rührte und regte sich nicht. Coco wollte jetzt unbedingt wissen, was es mit diesem geheimnisvollen Mann auf sich hatte. Sie wollte sich in einen schnelleren Zeitablauf versetzen und ins Zimmer eindringen. Doch es gelang ihr nicht.
Sie wußte nicht, ob die entfesselten okkulten Kräfte sie daran hinderten oder ob es andere Einflüsse waren. Vielleicht durchlebte sie nach dem telepathischen Kontakt mit ihrem Kind immer noch eine Schwächeperiode. Auf jeden Fall konnte sie den Zeitraffereffekt nicht auslösen, bei dem sie sich mit normaler Schnelligkeit bewegte, während um sie herum alles erstarrt war und niemand sie wahrnehmen konnte.
Coco setzte alles auf eine Karte. Sie riß die Tür auf, stürmte ins Zimmer und brach in den magischen Kreis der fünf ein. Bevor die vier alten Weiber begriffen, was geschah, stand sie schon vor Stanislas Beaufort.
Sie schaute ihm ins Gesicht, stieß einen überraschten Schrei aus und riß ihm die Perücke vom Kopf. Mit dem, was sie nun sah, hatte sie nicht gerechnet.
„So also verhält es sich mit Stanislas Beaufort!" rief sie.
Im nächsten Augenblick stürzten sich die vier alten Weiber wie Furien auf sie.
Ich ging mit Elise Busch zur Villa. Das Mädchen sträubte sich, und ich mußte sie mitziehen.
„Sei vernünftig, Elise. Ich werde alles tun, um dich zu schützen. Nimm dich zusammen. Wir müssen hin. Ich muß diesem Schrecken ein Ende bereiten."
„Dorian, ich habe furchtbare Angst. Meine Vogelscheuche... Sie stand nicht mehr auf dem Platz, als ich die Villa verlassen habe."
„Elise, sei tapfer. Oder willst du, daß noch mehr Mädchen ums Leben kommen?"
Sie zitterte, aber sie kam mit. Wir liefen um die Villa herum. Die hintere Pforte war nicht abgeschlossen. Ich schlich mit Elise durch den Park, am Swimmingpool vorbei, zur Terrasse hinter dem Haus.
Kein Licht brannte in der Villa. Bleich und bedrohlich stand sie im Mond- und Sternenlicht. Unter uns brandete das Meer gegen die Steilküste.
Ich sah einen phosphoreszierenden Schein hinter einem Fenster neben der Terrasse, und ich wollte hin. Aber Elise blieb stehen, mit schlotternden Knien.
„Nein, Dorian, ich will mich diesem verfluchten Haus nicht weiter nähern! Laß mich hier auf der Bank bei den Ginsterbüschen sitzen. Und geh mir nicht aus den Augen, bitte!"
„Gut, Elise. Bleib hier und rühr dich nicht von der Stelle. Ich will nur zu dem Fenster dort. Wenn dir etwas auffällt, rufst du, ja?"
„Ja, Dorian."
Ihre Zähne schlugen aufeinander. Ich mutete ihr das nicht gern zu, doch mir blieb keine andere Wahl. Ich mußte sie bei mir behalten. Sicher war der Tod mit der goldenen Sense schon unterwegs. Elise setzte sich auf die Bank. Ihr Rucksack und die Tonfigur lagen neben ihr. Im Mondlicht war sie so bleich wie eine Tote.
Mein Blick fiel auf die Tonfigur. Wenn Adolphe Guiata jedem Mädchen, das die Villa verließ, seine Tonfigur schenkte - wie kam er dann wieder zu den Figuren, wenn die Mädchen tot waren? An die sechzig Figuren hatte ich in seiner Hütte gesehen.
Ich schlich zum Fenster. Innen war der Vorhang zugezogen, doch ich konnte durch einen Spalt hindurchblicken. Ich sah drei der vier alten Damen, von einem giftigen grünlichen Licht umgeben.
Sie murmelten eine schreckliche Beschwörung. Immer wieder fielen die Namen „Satanas" und „Stanislas Beaufort."
Ich nahm an, daß auch die vierte alte Frau und Beaufort am Tisch saßen. Aber der Vorhang verdeckte sie.
Da flog die Tür auf, und Coco stürzte herein. Die fünf am Tisch unterbrachen abrupt ihre Beschwörung. Coco griff über den Tisch und riß etwas an sich - etwas Weißes, Seltsames, das ich nicht gleich identifizieren konnte.
Sie stieß einen spitzen Schrei aus und rief: „So also verhält es sich mit Stanislas Beaufort!"
Das grüne Licht erlosch, und die vier alten Weiber kreischten wie Furien. Sekunden später flammte die elektrische Beleuchtung auf, und ein Höllenspektakel begann. Beaufort sah ich nicht. Aber seine vier Anhängerinnen gebärdeten sich wie rasend.
„Das hast du nicht umsonst getan!" kreischten sie.
Sie zerrten Coco hin und her, zausten sie an den Haaren und wollten ihr das Gesicht zerkratzen. Schon war ich drauf und dran, das Fenster einzuschlagen und in den Salon einzusteigen. Da riß Coco sich los. Ich sah sie an der Tür stehen.
„Rührt mich nicht an, ihr Scheusale!" rief sie. „Kümmert euch lieber um euren Monsieur Beaufort." Sie lachte auf. „Einen schönen Meister habt ihr. Er ist da, wo ihr auch
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