0650 - Seelenfeuer
Korridor.
»… sei nicht traurig…«
Sie war es nicht. Sie war nur von der Stimmung des Liedes gefangen. Dabei wußte sie, daß es etwas völlig anderes beschrieb. Und doch… die Stimmen im Wind lenkten sie.
Lautlose Stimmen. Sie waren nicht zu hören. Sie existierten nur in ihrem Gefühl, ihrem Empfinden.
Sie ging hinaus.
Es war kühl, aber nicht so kühl wie damals, als sie zum ersten Mal Château Montagne betreten hatte.
»Woher weiß ich das?« murmelte sie. Sie konnte sich an jenen Februarmorgen nicht richtig erinnern. Ihr war, als habe er noch gar nicht stattgefunden, sondern läge in ferner Zukunft.
Zeit war irrelevant.
Damals hatte sie besinnungslos am Boden gelegen. Vom Einhorn gestürzt, oder von ihm abgeworfen? Fooly, der Jungdrache, hatte sie gefunden. Unwillkürlich lächelte sie. Dieser kleine Bursche war ihr seltsam seelenverwandt. Er wollte nicht ernstgenommen werden, und sie wollte nichts mit Magie zu tun haben. Doch beide waren mit ihrem Wollen zum Scheitern verurteilt. Sie waren den Zwängen ihrer Umwelt ausgeliefert.
Langsam ging Eva über den Hof.
Unwillkürlich wartete sie darauf, daß Fooly irgendwo auftauchte. Er besaß ein sehr feines Gespür. Aber vielleicht ahnte auch er nicht, was hier geschah.
»… es fängt alles erst an…«
Das Lied klang in ihr, obgleich ihre Ohren den CD-Player längst nicht mehr hören konnten. Eva erreichte das Tor in der Mauer, ging über das Zugbrücken-Imitat hinaus auf die Serpentinenstraße, die hinunter ins Dorf führte. »… sie ist nicht verlassen, nur allein…«
Der Titel eines Romans, den sie vor kurzem gelesen hatte, ging ihr durch den Kopf. Ein Science fiction-Thriller von Kurt Brand, einem bereits verstorbenen deutschen Schriftsteller: »Tote gehen ihren Weg allein«.
Eva ging ihren Weg allein. Aber sie war doch keine Tote! Warum hatte sie gerade jetzt an diesen Titel denken müssen?
Weil es hieß, sie sei ermordet worden?
»Ich bin nicht tot!« wollte sie schreien. Aber sie blieb stumm. Sie ging ein paar Meter die Straße entlang und blieb stehen.
War dies die Stelle, an der der Drache sie damals gefunden haben wollte?
Sie konnte sich daran nicht erinnern. Alles, was damals geschehen war, kannte sie nur aus den Erzählungen der anderen.
»Merlin«, flüsterte sie, ballte die Fäuste und preßte sie gegen ihre Schläfen. »Merlin, Merlin, warum hast du mir das angetan?«
Plötzlich war das Einhorn da.
Es stupste sie an. Schnaubte freundlich.
Evas Augen wurden groß. Sie lachte froh auf, strich mit beiden Händen durch die weiße Mähne, klopfte Hals und Flanken des Tieres. Dann schwang sie sich mit einem wilden Ruck auf seinen Rücken.
Das Einhorn wieherte, bäumte sich einmal kurz auf, wobei es sichtlich darauf bedacht war, seine Reiterin nicht abzuwerfen. Es schnaubte und prustete, schüttelte den Kopf, trabte an und verschwand.
Mit seiner Reiterin.
Es gab sie im Château Montagne und seiner Umgebung nicht mehr.
In einem Zimmer lief immer noch der CD-Player.
Irgendwann verklangen die »Stimmen im Wind«.
***
Stefan Kreis erreichte den Waldrand. Vor ihm erstreckte sich eine weite Steppenlandschaft. Über ihm begann die Sonne inzwischen heiß zu brennen. Er spürte Hunger und Durst. Der Hunger ließ sich unterdrücken; der Durst war das größere Problem.
Er mußte Wasser finden.
Ein wenig fühlte er sich wie Conan. Eine Figur aus Fantasy-Romanen, die Kreis bevorzugt las. Ein einsamer Held inmitten einer feindlichen Wildnis. Er konnte sich mit dieser Vorstellung sogar gut abfinden; nur sein Outfit paßte nicht ganz zu dem schwertschwingenden Helden der Vorzeit, der längst mit Schwarzenegger fürs Kino und Möller fürs Fernsehen verfilmt worden war. Vor allem waren Fantasy-Krieger keine Brillenträger…
Und das hier war kein Roman oder Film und auch kein Computerspiel, sondern die Wirklichkeit.
Die Schwierigkeiten, die sich am Computer per Mausklick beheben ließen - oder im Roman, indem man einfach weiter las und der Fantasie des Autors vertraute - diese Schwierigkeiten konnten hier lebensbedrohend werden.
Kreis überlegte. Wahrscheinlich war die blonde Shy, oder wie auch immer sie hieß, inzwischen wieder erwacht und würde nach ihm suchen. Er hatte garantiert eine sehr deutliche Spur hinterlassen. Er mußte sich also etwas einfallen lassen.
Jetzt auf Pause schalten, den Spielstand einfrieren und in aller Ruhe nach einer Lösung suchen…
Klappte hier nicht.
Aber vielleicht konnte er sich eine Waffe
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