0655 - Der Tod in Moskau
sich an ihn zu gewöhnen. Vermutlich war auch Eva nicht ihr Geburtsname, aber alle anderen nannten sie so, und ihr Bekanntenkreis schien doch etwas größer zu sein, als sie ahnte.
»Wenn ihr denkt, daß ich Merlins Tochter bin«, sagte sie, »warum fragt ihr ihn nicht nach mir? Er müßte mich doch dann kennen, oder? Er müßte auch wissen, wie ich heiße.«
»Merlin ist zur Zeit wieder einmal unerreichbar«, erwiderte die hübsche Frau, die Nicole Duval hieß. »Und vielleicht würde er uns trotzdem nichts sagen. Seine Geheimniskrämerei ist manchmal unerträglich.«
»Mir würde er es sicher sagen, wenn ich tatsächlich seine Tochter bin.«
Bildfetzen zuckten auf und verschwanden wieder, ehe sie greifbar wurden: ein Wald, ein Mann in einer weißen Kutte… eine Insel…
Fort, alles blitzschnell wieder ausgelöscht.
»Ich wäre mir da gar nicht so sicher«, hörte sie Nicole sagen. »Weißt du, manchmal möchte ich ihn einfach nehmen und an die Wand klatschen. Wenn es ihm gefällt, kreuzt er auf und erteilt uns haarsträubende Aufträge, und wenn wir ein bißchen an Hintergrundinformationen haben wollen, spielt er Auster und hält sich verschlossen.«
Tanja - Eva - erhob sich vom Frühstückstisch. Sie hatten schon viel zu lange hier gesessen und geredet. Das Personal warf ihnen bereits mißbilligende Blicke zu. Eva überlegte, was sie tun sollte. Sie war bereit, Nicole zu vertrauen. Aber sie wollte auch ihren eigenen Weg gehen. Wohin auch immer der sie führte.
Vielleicht wartete das Einhorn irgendwo auf sie?
»Was hältst du davon, wenn wir jetzt erstmal was zum Anziehen für dich besorgen?« schlug Nicole vor. »Professor Saranow wollte dich zwar zum Einkaufsbummel mitnehmen, aber ich denke, wir zwei hätten auch ein wenig Spaß dabei.«
Vor allem in der Umkleidekabine, dachte Eva. So eng wie möglich… Berührungen…
Sie erschrak über ihre Gedanken. Wilde Fantasien schossen ihr durch den Kopf. Sie versuchte sie zurückzudrängen, aber die Bilder kamen immer wieder. Vielleicht ein vorsichtiger, freundschaftlicher Kuß… nicht zu freundschaftlich, eher…
»Nein!« sagte sie laut.
»Nein?« echote Nicole. »Warum nicht? Willst du weiter in diesen Klamotten herumlaufen? Früher hast du sie gehaßt. Du hast sie sogar einige Male weggeworfen. Seltsamerweise waren sie dann immer wieder da. Hast du vielleicht eine Erklärung dafür?«
»Ich? Nein!« protestierte Eva. »Wie denn auch, wenn ich mich an nichts erinnern kann? Ich kann ja nicht einmal nachprüfen, ob das alles stimmt, was du mir erzählst. Und… ich komme natürlich gern mit. Ich bin froh, wenn ich diesen Mist hier loswerde!«
»Warum sagtest du dann nein?«
»Ich meinte etwas anderes«, sagte Eva. Sie spürte, wie sie errötete. Wandte sich ab, warf aus den Augenwinkeln Nicole einen prüfenden Blick zu. Ahnte die Französin vielleicht etwas?
Bei Merlin, sag's ihr! drängte eine boshafte Stimme in ihr. Sag es ihr und gesteh es dir auch selbst ein, daß du von ihr verführt werden möchtest… oder sie selbst verführen möchtest… sie ist sicher viel zärtlicher als ein Junge.
Sie schüttelte langsam den Kopf. Ich muß den Verstand verloren haben. Was geschieht mit mir? Was denke ich da? Das ist jetzt doch völlig irrelevant. Es geht um ganz andere Dinge!
»Gehen wir«, sagte Nicole. »Sag mal… möchtest du den Dolch nicht hier im Hotel lassen? Vielleicht gibt es draußen auf der Straße Ärger.«
Eva zögerte.
Dann nickte sie.
»Ich könnte dir auch erst mal ein paar Sachen von mir geben, wenn du dich in diesem Outfit nicht wohlfühlst«, bot Nicole an. »Meine Ersatzkleidung. Ich kaufe mir sowieso noch ein paar neue Klamotten.«
Oh ja! »Oh nein, das ist nicht nötig. Sie werden mir sowieso nicht passen. Du bist etwas größer als ich.« Du bist verrückt! Nimm das Angebot an, laß dir von ihr beim Umkleiden helfen. Ihre Hände auf deiner Haut…
»Nein«, wiederholte sie. »Ich lasse den Dolch hier, aber du brauchst mir nichts von deinen Sachen zu geben.« Närrin! Du vergibst eine Chance!
Sie verließen den Frühstücksraum, und wenig später das Hotel.
Eva war völlig verwirrt, schlimmer als am vergangenen Abend, als sie sich unvermittelt in dieser Stadt fand.
Sie ahnte nur, was mit ihr geschah.
***
Fassungslos starrte Boris Saranow die Stelle an, wo er vorhin den Mercedes eingeparkt und verschlossen hatte. Das Auto war weg.
»Trotz Alarmanlage! Trotz Polizei! Das gibt's doch nicht!« stieß er hervor. »Da klauen
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