0674 - Der Wald des Teufels
sie etwas am Arm.
Erschrocken fuhr sie herum und blickte in die gelb leuchtenden Augen des Wesens.
»Dem Magier ist die Flucht gelungen. Damit habe ich meinen Teil der Abmachung erfüllt. Nun bitte ich um deine Hilfe.«
Nicole schüttelte den Kopf. »Wir sollten uns erst mal über ein paar Dinge unterhalten. Über das hier zum Beispiel«, sagte sie und ließ ihren Arm durch einen Zaunpfahl gleiten. »Und über die verschwundenen Kinder.«
Sie wich zurück, als der Geist seine spitzen Reißzähne entblößte, aber er griff nicht an. Statt dessen nickte er und streckte eine Hand aus. »Du hast recht. Zuerst mußt du begreifen, was hier geschieht. Dann wirst du mir helfen.«
Es gefiel Nicole nicht, daß er ihre Mithilfe für beschlossene Sache hielt, aber sie entschied sich, auf das Spiel einzugehen, bis sie wußte, was er von ihr wollte. Dann konnte sie es immer noch zur Konfrontation kommen lassen.
Immerhin hatte sie die erste Runde des Pokerspiels gewonnen. Sie hoffte, auch weiter Punkte machen zu können.
Sie ergriff die Hand des Geistes, die erstaunlich warm war, und bereitete sich auf einen Flug, einen Teleport oder eine ähnliche magische Aktion vor.
Nichts passierte.
»Und jetzt?« fragte sie ungeduldig.
Das Wesen entblößte erneut die Zähne. Das ist keine Warnung, begriff Nicole erstaunt. Das ist ein Lächeln.
Einen Moment lang war sie uralten Instinkten erlegen, welche die Menschheit seit dem Beginn ihrer Existenz in sich trug und die auch im Tierreich heute noch gültig war - daß das Zeigen der Zähne eine Drohung darstellte. Nur die menschliche Zivilisation hatte dieser Geste eine neue, gegensätzliche Bedeutung gegeben.
»Der erste Teil deiner Antwort«, sagte das Wesen und zeigte nach links.
Die Dämonenjägerin folgte seinem ausgestreckten Arm mit dem Blick. Ihre Augen wurden groß.
Es war, als hätte jemand ein Loch in die Welt gerissen und eine zweite dahinter entdeckt. Wie ein Weltentor, das offenstand, ermöglichte dieses »Loch« den Blick in die andere Daseinsebene. Vor ihren Augen erschien eine Lichtung, die von dichtem Wald umgeben war, und ein kleiner Bach, an dem drei Kinder spielten. Nicole sah genauer hin: Es waren die verschwundenen Kinder.
»Was geschieht mit ihnen?« fragte sie leise.
»Sie spielen. An diesem Ort vergeht keine Zeit. Er ist wie eine Tasche zwischen den Welten, in der ich Dinge und Menschen verschwinden lassen kann. Der gleiche Tag spielt sich immer wieder ab, ohne daß die Kinder es merken. Sollten sie zurückkommen, wird es für sie sein, als seien sie gerade einmal ein paar Stunden weg gewesen.«
Nicole war der Konjunktiv nicht entgangen. Sollten sie zurückkommen, hatte der Geist gesagt, als wäre er sich noch nicht sicher, ob er sie zurückgeben würde.
»Was war mit den Kindern, die wir im Wald gesehen haben?«
»Nur ein Abbild, das euch ablenken sollte.«
Die Dämonen jägerin stutzte, als sie erneut auf die Landschaft blickte. Unter einem der Bäume sah sie sich selbst liegen. Es schien so, als würde sie schlafen.
»Das verstehe ich selbst nicht«, antwortete das Wesen auf ihre unausgesprochene Frage. »Ich konnte nach deinem Körper greifen, aber nicht nach deinem Geist. Er verschließt sich mir, als hättest du eine Mauer darum errichtet.«
Womit du recht hast, dachte Nicole. Wie alle Mitglieder der Zamorra-Crew verfügte auch sie über eine mentale Sperre, die es unmöglich machte, daß jemand ihren Geist manipulierte oder darauf zugriff. Aber das sagte sie dem Geist nicht. Sie hob einfach nur die Schultern, als wäre das eine Frage, die sie auch nicht beantworten könne.
»Wieso sagst du mir nicht, warum du die Kinder an diesen Ort gebracht hast?«
Das Wesen senkte den Kopf.
»Um die Menschen zu schützen«, gestand es.
***
Während das Wesen mit Nicole auf den Wald zuging, erzählte es seine Geschichte:
»Seit Tausenden von Jahren eurer Zeitrechnung lebe ich an diesem Ort. Eine kleine Quelle gibt mir Kraft, und ich beschütze sie und den Wald, der sie umgibt. Das war immer meine Aufgabe, und ich führte sie durch, so gut ich konnte. Aber eines Tages, vor vielen Jahrhunderten, kamen die ersten Menschen in meinen Wald. Sie fällten die Bäume und bauten Häuser. Dann brannten sie den Wald nieder, rodeten das Land und legten Felder an. Ich wußte nicht, wie ich mich verhalten sollte, also wartete ich ab, und nach einiger Zeit störten die Menschen mich nicht mehr. Sie beanspruchten einen Teil des Waldes für sich und ließen mich in
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