0675 - Der Geist von Château Montagne
Zamorra, wenn du hier unten bei uns stehst und lebst, wer oder was ist das, was da am Baum baumelt?«
»Habt ihr noch nicht versucht, ihn herunterzuholen?«
»Ich will ja den ganzen verdammten Baum umsägen, aber Madame verbietet's!« Er schenkte Mostaches besserer Hälfte einen extrem schrägen Drohblick.
»Vielleicht kann mir ja mal jemand erzählen, was genau hier geschehen ist. Habt ihr schon die Polizei benachrichtigt?« erkundigte Zamorra sich mit einem weiteren Blick auf den Erhängten.
»Bis jetzt noch nicht«, sagte Fronton.
Mostache erzählte.
Zamorra sah Fronton nachdenklich an. Fooly mußte sehr viel Kraft aufgewandt haben, um ihn zu retten und seine Wunden zu versorgen, und das, obgleich er selbst bereits angeschlagen gewesen war. Offensichtlich hatte auch die Drachenmagie ihre Grenzen.
Vermutlich ahnte keiner der anderen, wie intensiv der Jungdrache ihnen tatsächlich geholfen hatte. Um sich dann davonzuschleichen, weil er den Dank nicht wollte…
Zamorra näherte sich dem Baumstamm.
»Paß auf!« warnte Fronton. »Vielleicht greift er wieder an.«
»Der nicht mehr«, sagte Zamorra leise. Er berührte die Rinde. Dieser Baum sollte also beweglich gewesen sein wie Gummi. Das war durchaus möglich.
Fooly hatte angedeutet, daß der Baum hätte morden sollen. Es mußte also jemanden geben, der dieser Großpflanze einen entsprechenden Befehl oder Auftrag gegeben hatte.
Aber wer?
Wer außer den Drachen vom Drachenland war in der Lage, mit Bäumen zu reden? Jener Waldgeist vielleicht, den Zamorra und Nicole in Ostdeutschland kennengelernt hatten. Aber diesen Geist gab es nicht mehr, und falls sich hier einer herumtrieb, hätte Zamorra ihn sicher schon früher einmal bemerkt.
Es mußte also etwas anderes sein.
Er dachte an Luc Avenge. In dessen Haus gingen seltsame Dinge vor. War Avenge vielleicht auch für diese Sache verantwortlich?
Für einen Mordversuch?
Konnte er zu den Bäumen sprechen?
Zamorra überlegte, ob er mit der Zeitschau versuchen sollte, herauszufinden, was hier geschehen war. Aber noch während er nachdachte, begann es im Blätterdach des Baumes heftig zu rauschen.
Das Seil riß.
Und der Erhängte krachte zwischen Zamorra und den drei anderen zu Boden.
***
An einem anderen Ort lachte ein Mann heiser auf.
Es war nicht ganz so abgelaufen, wie er es geplant hatte. Aber immerhin - es war ein Signal, das Zamorra auf keinen Fall übersehen konnte. Es war eine Kampfansage.
Der Mann, der sich Luc Avenge nannte, war sicher, daß Zamorra den Fehdehandschuh aufnehmen würde. Dafür kannte er den Dämonenjäger lange und gut genug. Der konnte sich in den beinahe anderthalb Jahrzehnten nicht genug verändert haben, als daß er heute grundlegend anders reagierte als früher.
»Das Spiel hat begonnen«, murmelte Avenge. »Wie wird es enden?«
***
Zamorra beugte sich über seine Leiche. Er fühlte sich wie in einem Traum. Irgendwie war es absurd, vor sich selbst zu knien und sich zu untersuchen.
Aber mit dieser Untersuchung hatte er nicht viel Arbeit.
Der gerissene Strick - war aus Holz!
Der Leichnam, der wie Zamorra aussah, ebenfalls!
Es war alles nichts anderes als das Stück eines großen Astes, das in eine andere Form gezwungen worden war! In menschliche Form mit einem ganz bestimmten Aussehen!
So, wie der Baum sich von einer äußerst beweglichen Seite gezeigt hatte, war auch diese Verformung zustande gekommen. Magie war im Spiel, doch abermals konnte Zamorra keine Schwarze Magie darin erkennen, nichts Bösartiges, nichts Dämonisches, Höllisches, Teuflisches!
Aber war es nicht teuflisch, einen Baum zum Mordwerkzeug zu machen?
Ihn mit Magie so zu manipulieren, daß er seine hölzerne Starre vorübergehend verlor und auch ein bestimmtes Aussehen vorgaukeln konnte, besser als es jeder Holzschnitzer gekonnt hätte?
Zamorra löste sein Amulett von der Halskette und berührte damit die hölzerne Figur.
Etwas blitzte grell auf.
Sekundenlang glaubte Zamorra die Augen der Holzfigur, die jetzt doch nichts anderes als ein abgebrochenes Aststück war, aufleuchten zu sehen, in einem strahlenden, unwirklichen Grün, aber dann war es schon wieder vorbei.
Vor ihm lag nur noch das Aststück.
Es hatte nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit einem Menschen, nicht einmal dessen Größe.
»Ich glaube, das war's«, murmelte Zamorra und richtete sich wieder auf.
»Hoffentlich«, sagte Fronton. »Sonst komme ich morgen doch noch mit der Motorsäge.«
»Macht Schluß«, sagte Zamorra.
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