0676 - Die Höhle des Grauens
dessen Stände Zamorra über die Köpfe der Stadtbewohner hinweg erkennen konnte. Hinter den Ständen erhob sich als höchstes Gebäude der Stadt eine mehrstöckige Pagode, von dessen Dach einige Banner flatterten, die mit Schriftzeichen bedeckt waren. Der Dämonenjäger vermutete, daß es sich bei dem Gebäude um einen Palast handelte.
»Macht Platz!« ertönte hinter ihm ein lauter Ruf. Die Menge wich gehorsam zur Seite und drängte Zamorra mit sich gegen eine der Häuserwände. Er drehte sich um und sah eine weiße Sänfte, die wild schaukelnd im Laufschritt durch die schmale Gasse getragen wurde.
Seine Begleiterin schüttelte den Kopf. »Wu Huan-Tiao«, sagte sie und der Dämonenjäger konnte die Verärgerung in ihrer Stimme hören. »Wie kann er es wagen, schon vor der Prüfung in einer solchen Weise zu erscheinen? Das beweist wieder einmal, wie wenig Anstand er hat.«
Direkt vor Zamorra kam die Sänfte abrupt zum Stehen, so als habe der Benutzer die Beschuldigungen gehört. Die vier Träger hoben die gepolsterten Holzkufen von ihren Schultern, gingen mit einer geübten Bewegung in die Knie und setzten die Sänfte auf ihren Oberschenkeln ab. Der Dämonenjäger bemerkte, daß die Männer angestrengt keuchten. Das sind Menschen, dachte er überrascht.
Im gleichen Moment wurde der weiße Stoff der Sänfte aus dem Inneren zurückgezogen. Eine gepflegte Hand, an der nur die langen, spitz zugefeilten Fingernägel auffielen, schob sich nach draußen und ließ einige Kirschkerne vor Zamorra auf die Straße fallen.
»Abfall zu Abfall«, sagte eine weiche Stimme hinter den Stoffen.
Die Menge wurde still. Zamorra spürte, daß alle Augen auf ihm ruhten.
Okay, dachte er, er hat mich beleidigt und offensichtlich erwartet man von mir, daß ich jetzt ihn beleidige. Möglicherweise war das bereits Teil der Prüfung.
Einer Eingebung folgend hob er die Kirschkerne vom Boden auf und verneigte sich spöttisch vor seinem ungesehenen Gegner. »Wu Huan-Tiao«, entgegnete er, froh, sich den Namen gemerkt zu haben, »ich danke dir für dein Geschenk. Ich werde diese Kerne pflanzen, damit wenigstens etwas von dir nach diesem Tag weiterbesteht.«
Um ihn herum murmelte die Menge anerkennend. Sie waren mit dem verbalen Austausch zufrieden.
Die Hand verschwand wieder im Inneren der Sänfte. Der Stoff fiel zurück und die Sänftenträger erhoben sich, ohne auf ein Kommando zu warten. Minuten später waren sie mit ihrer weißen Last zwischen den Häusern verschwunden.
Zamorra ließ die Kirschkerne fallen und wischte sich die Hand an seiner Robe ab. Die Menge zerstreute sich langsam, aber einige Leute blieben zurück, um ihm Glück zu wünschen. Ein paar baten ihn sogar, nach seiner bestandenen Prüfung in ihr Haus zu kommen und das Ereignis zu feiern.
Der Dämonenjäger dankte ihnen höflich, auch wenn ihm bei jeder untoten, kalten Hand, die er schüttelte, ein leichter Schauer über den Rücken lief. Anscheinend, dachte er, war er bei den Vampiren beliebt, obwohl er ein Außenseiter in dieser Stadt war.
»Warum auch nicht«, sagte seine Begleiterin lächelnd, »schließlich hast du weit mehr für sie getan, als dieser Wu Huan-Tiao.«
Zamorra erstarrte.
Die Vampirin hatte seine Gedanken gelesen…
***
Gryf sah, wie der Polizist herumfuhr und nach seiner Waffe tastete. Er rief der jungen Frau einige scharfe Worte zu. Obwohl der Druide kein Wort verstand, konnte er sich denken, daß der Uniformierte ihr gerade befahl, die Hände hochzunehmen. Sie ignorierte ihn und blieb einfach in der halb geöffneten Tür stehen.
Der Polizist zog seine Pistole und entsicherte sie.
Gryf trat ans Gitter. »Schieß nicht«, sagte er eindringlich. »Sie hat nichts mit uns zu tun.«
Der Uniformierte warf ihm einen kurzen Blick zu, wandte sich dann aber wieder an die unbekannte Frau. Er wiederholte seine Aufforderung und hob zur Drohung seine Waffe. Gryf befürchtete, er würde sie nur aus Nervosität einsetzen.
Dann öffnete die Frau den Mund. Langsam und abgehackt formulierte sie einige Worte, so als müsse sie sich erst an das Sprechen gewöhnen. Gryf glaubte, einen Roboter vor sich zu sehen. Nach einem Moment wurde ihre Sprache sicherer und schneller. Sie machte einen Schritt auf den Polizisten zu, der die Waffe sinken ließ. Sie entfiel seinen Fingern und polterte auf den Boden.
Gryf hob die Augenbrauen. Es schien, als habe die unbekannte Frau seinen Wärter hypnotisiert. Er beobachtete, wie sie dem stumm vor ihr stehenden Mann die
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