0688 - Der Kult
Scherenmann. Sie waren die Zerstörer, die Grausamen, die geschickt wurden, um die Feinde zu vernichten.
Schon den Kindern wurde von ihnen erzählt. Auf Java lebten die Menschen mit ihren Geistern und Dämonen, die alten Legenden aus den verschiedenen Reichen gehörten dazu, sie waren in das Leben der Inselbewohner integriert.
Gut und Böse kämpften gegeneinander. Beide stellten den Lauf der Welt dar, aber sehr oft gewann das Böse, das durch den Wayang-Kult ein Aussehen bekommen hatte.
Ein schattenhaftes Aussehen!
Wenn die Geschichten gespielt wurden, dann nur von Schatten, die scherenschnittartig über eine Leinwand huschten. Die Schatten malten sich dann, je nach Lichteinfall, drohend oder weniger drohend ab. Aber die Waffen der Bösen töteten immer.
Das Gegenmittel lag nun vor ihm auf dem Schreibtisch. Die alte Zauberin war viel in der Welt herumgereist und auf oft abenteuerlichen Wegen in fremde Länder gekommen.
Sie hatte von einem Voodoo-Kult berichtet und erfahren, daß er den Wayang-Kult stoppen konnte, wenn derjenige, der es tat, auch die Regeln einhielt.
Bogan Kulani schreckte zusammen, als er das dumpfe Geräusch hörte. Irgendwo im Haus hatte jemand gegen eine Wand geschlagen, als wollte er dort einen Nagel einhauen.
Für einen Moment blieb er starr sitzen. Über seinen Nacken rann ein kalter Schauer, der auch den Rücken nicht ausließ. Er hatte Ruhe gewollt und sie nicht bekommen. Durch irgendein Ereignis war sie unterbrochen worden.
Ein schlechtes Omen?
Er wußte es nicht und wartete ab. Niemand störte ihn in den nächsten Minuten. Er saß allein in der Stille, aber er hatte das Gefühl, als wäre er plötzlich nicht mehr allein.
Im Zimmer hatte sich etwas verändert.
Der Blick des alten Mannes glitt über die Regale hinweg, erfaßte auch den hohen Schrank und wanderte weiter bis zum Fenster, das durch die Vorhänge verdeckt wurde.
Dort etwa?
Sehen konnte er nichts, nur annehmen. Langsam stand er auf. Er schob den Lehnstuhl zurück, der sich auf dem weichen Teppich lautlos bewegte. Kulani wagte nicht einmal, laut Luft zu holen. Die Gewißheit, nicht mehr allein zu sein, verdichtete sich immer mehr und ließ sein Herz schneller schlagen.
Der Kult war da, daran gab es für ihn keinen Zweifel. Er hatte bereits seine Boten geschickt, die lauerten und sich noch im Unsichtbaren verborgen hielten.
Aber wo?
Er drehte sich um.
Die Tür lag im Schatten. Dahinter war nichts zu hören. Auch über manche Möbelstücke krochen die Schatten hinweg, ohne sich zu bewegen. Sie kamen ihm vor wie Schlamm, der eingefroren war.
Wo lauerte die Gefahr?
Die Luft war warm geworden. Er roch die Ausdünstungen seines Körpers und verfluchte sich innerlich, daß er überhaupt so extrem reagierte.
Ihm wurde übel, er würgte. In seiner Kehle hatte sich ein dicker Klumpen festgesetzt. Kulani fragte sich, ob in diesem Augenblick bereits die Entscheidung herbeigeführt wurde und dann alles zu Ende war.
Das wollte er nicht hoffen, daran wollte er nicht glauben. Nein, diesen Weg sollte es nicht geben, er war…
Seine Gedanken brachen ab.
Er hatte etwas gesehen.
Am Fenster, hinter dem Vorhang.
Dort bewegte sich ein Schatten.
Kulani mußte es einfach glauben, er bekam den Beweis, denn dieser Schatten trug eine Waffe bei sich, die weit auseinanderklaffte, zwei Schenkel bildete, die dann zusammenklappten.
Da wußte Kulani, wer gekommen war.
Der Scherenmann!
***
Wenn es je eine Steigerung für grausam gab, dann war es der Scherenmann, der zwar Arme besaß, diese aber ab Höhe der Ellbogen zu Scheren wurden, deren Innenseiten glatt geschliffen waren, so daß sie mit einem Schlag, einem Zusammenschnappen, den Kopf eines Menschen vom Körper trennen konnten.
War so sein Sohn ums Leben gekommen? Hatte auch er den Scherenmann gesehen und ihm Tribut zollen müssen?
Sein Mund trocknete aus. Der Geschmack von bitterer Galle stieg gleichzeitig in ihm hoch. Er wäre am liebsten geflüchtet, das schaffte er nicht, denn er konnte seinen Blick einfach nicht von diesem Vorhang wenden, hinter dem die Figur einen bizarren Tanz aufführte und ihre Mordhände hektisch bewegte.
Er sah den Scherenmann im Profil, und er mußte sich eingestehen, daß es keinen Unterschied zu der Figur gab, die er aus Java kannte. Sie hatte die gewaltige Entfernung überstanden, wieder ein Beweis für die Macht des Wayang-Kults.
Vor seinen Augen spielte sich eine unheimliche Szenerie ab. Der Scherenmann, nur als Schatten und deshalb
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