0688 - Der Kult
gesichtslos zu erkennen, bewegte seine Mordarme und ließ dabei seine Scheren immer wieder zusammenschnappen. Als sie aufeinandertrafen, erklang trotzdem kein Geräusch. Weder ein Klirren noch ein Schaben oder ein Knacken, die Gestalt mit der Schere arbeitete völlig lautlos.
Doch jede Bewegung seinerseits glich einer schrecklichen Drohung und machte dem Zuschauer klar, daß er in diesem Spiel nur der Verlierer sein konnte.
Er spürte die Furcht immer stärker. Sie verwandelte sich in eine Säure; er schaffte es nicht, sie herunterzuschlucken.
Nur für ihn spielte die Figur. Kulani wußte, woraus sie bestand. Man fertigte sie aus Ziegen- oder Schafshaut an. Sie wurden von den Tieren abgezogen, dann getrocknet, gegerbt, mit gewissen Flüssigkeiten behandelt, und sie war fertig, um daraus die Figuren ausschneiden zu können.
Nur gab es hier keinen, der sie führte. Der Scherenmann war hinter dem Vorhang erschienen und bewegte sich von allein. Er tanzte zuckend, er war wie ein Clown, der das Böse ausstrahlte, das von keinem Widerstand aufgehalten wurde.
Nicht eine Falte bewegte sich, der Vorhang blieb starr, und trotzdem tanzte die Figur.
Bogan Kulani war ein Experte, was diese Schattenspiele betraf. Er wußte genau, was der Tanz bedeutete, denn er kannte jede Bewegung. Jedes lautlose Zucken und Huschen besaß eine bestimmte Bedeutung, die nur auf ein Ziel hinwies.
Auf den Tod!
Ja, er sollte sterben. Es war wie ein Vorspiel, aber der Scherenmann hatte ihm nicht zu verstehen gegeben, wann die Sekunde seines Todes eintreffen würde.
Noch hielt er sich zurück, wirbelte von einer Seite zur anderen, verbeugte sich, richtete sich wieder auf und schüttelte sich plötzlich durch, als hätte man Wasser über ihn ausgegossen.
Er war wie von Sinnen.
Dann hörte Kulani etwas.
Zischende Laute drangen ihm entgegen. Ihren Ursprung hatten sie hinter dem Vorhang. Gleichzeitig veränderte sich die Temperatur. Sie kühlte sehr stark ab.
Eisige Kälte wehte durch den Raum. Kulani kam sie vor, als wäre sie bereits der Bote des Todes.
Sie war nicht sichtbar für ihn, nur mehr ein Hauch, ein Nebelstreifen, eine flüchtige Begrüßung, die über ihn hinwegstrich und an seinen Wangen entlangglitt.
Die Angst blieb.
Sie verdichtete sich. Sie war wie ein schwarzer, dicker Klumpen aus Teer, der sich in seinen Magen festsetzte und ihn nicht mehr loslassen wollte.
Plötzlich war da die Stimme. Eine bekannte und trotzdem verfremdete Stimme. Ein Gruß aus der Vergangenheit, die schon so weit zurücklag. Eine böse, eine grauenvolle Warnung.
»Ich hole euch… ich hole euch alle. Denke an den Kult, Bogan. Denke daran. Du kannst ihm nicht entrinnen. Du hast alles getan, aber es war genau das Falsche. Kein Mensch kann dem Kult entfliehen. Er ist da, er wird immer bleiben. Hörst du…?«
Bogan hatte gehört. Ja, der Kult war da, er würde bleiben, er würde nie vergehen.
In den ungeschriebenen Gesetzen hieß es, daß er die Zeiten überleben würde.
Alle Zeiten, bis ans Ende der Welt…
Kulani hatte nach der Puppe greifen wollen, um mit ihr den Gegenzauber aufzubauen, aber die Stimme hatte ihn regelrecht paralysiert. Er stand auf dem Fleck, ohne auch nur den kleinen Finger rühren zu können. Die ungewöhnliche Kälte hüllte ihn ein wie in einen Mantel. Er kam kaum dazu, nach Atem zu schnappen, und dann hörte er zum Abschied das häßliche, gemeine und gleichzeitig triumphierende Lachen der Stimme.
Es klang wie ein Versprechen, das irgendwann einmal eingelöst wurde. Danach war es ruhig. Kein Scherenmann mehr, keine Stimme, die zu ihm sprach.
Stille…
Tief atmete Bogan Kulani durch. Als er über seine Wangen hinwegstrich, waren sie schweißnaß.
Die Augäpfel drückten von innen, seine Lippen waren trocken und rissig geworden, in seinem Magen brannte es wie Feuer. Er schüttelte den Kopf und konnte einfach nicht verstehen, daß so etwas passierte.
Der Scherenmann war schlimm genug. Als noch schlimmer jedoch empfand er die Stimme, die sich gemeldet hatte.
Ja, er kannte sie, er kannte sie sogar sehr gut, denn sie gehörte Konda Kulani.
Und das war sein Bruder!
***
Die Erinnerung an diesen Mann ließ ihn beben und zittern. Jahrelang hatte er nicht mehr von ihm gehört. Er war aus dem Familienclan verschwunden, als hätte es ihn nie zuvor gegeben. Aber er war schon in jungen Jahren einen anderen Weg gegangen als die restlichen Kulanis. Er hatte sich immer von ihnen abgewandt, um den Weg der Schatten zu gehen, weil er
Weitere Kostenlose Bücher