0688 - Der Kult
Leinwand bewegen. Die meisten von ihnen sollen Dämonen der Südsee darstellen. Im Gegensatz zu vielen anderen Theaterfiguren zeigen sie kaum Farbe. Sie sind schwarz, grau oder mal schmutzigbraun. Man führt sie über Stäbe, und sie werden aus Schafs oder Ziegenfell hergestellt. Die Spieler selbst werden unter der Bevölkerung sehr geachtet. Liege ich bisher richtig, Vater?«
»Das stimmt.«
Poleno hatte nach dem Geständnis des Alten noch nichts gesagt. Jetzt mischte er sich ein. »Ich habe nie davon gehört, daß die Figuren auch töten, oder die Spieler, die diese Aufführungen leiten.«
Bogan Kulani runzelte die Stirn. Es sah aus, als müßte er erst nachdenken. »Du hast natürlich recht, oberflächlich gesehen. Blickt man jedoch hinter den Kult, da sieht man mehr. Er ist sehr alt, er war früher anders, als die Menschen noch Kontakt mit den Göttern besaßen. Da haben sie mit ihnen gesprochen, aber dieser Kontakt brach ab. Menschen und Wesen drifteten auseinander, nur die Erinnerung blieb, und die wiederum manifestierte die Menschen in den Puppen. Sie schufen sie nach den Ebenbildern der finsteren Götter und spielten die alten Stücke.«
»Puppen leben nicht!« warf Rastu ein.
»Da hast du auch recht.« Bogan hob die Stimme an. Sie klang jetzt leicht beschwörend. »Aber der Zauber lebte weiter, er konnte nicht vernichtet werden. Schon immer hat es Menschen gegeben, die sich mit ihm beschäftigten, die göttergleich werden wollten. Euer Onkel gehörte dazu.«
»Was tatest du?« flüsterte Shida.
»Ich entzweite mich mit ihm. Ich verfluchte ihn. Es ging bis zum Haß. Für mich war er eine Schande der Familie, umgekehrt aber auch. Er versprach meiner Familie den Tod. Der Fluch des Kults würde uns treffen und keinen auslassen. Deshalb sind wir geflohen. Sonst hätten wir die Insel niemals verlassen.« Er hob die Schultern. »Das ging über Jahre gut, und ich gab mich der trügerischen Hoffnung hin, daß alles in Ordnung wäre. Aber ich habe mich getäuscht. Euer Onkel hat nichts vergessen. Er verließ die Insel ebenfalls, ist nach London gekommen und begibt sich nun daran, seine Rache zu erfüllen.«
Shida bekam einen Schauer. Sie schaute sich unbehaglich um. Das Zimmer kam ihr plötzlich kalt vor, und in den dunklen Ecken schienen kleine Ungeheuer zu lauern. »Was sollen wir denn tun? Gibt es einen Ausweg, Vater? Kennst du einen?«
Bogan legte die Stirn in Falten. »Möglicherweise. Ich möchte euch natürlich schützen. Ich weiß genau, daß ich alles verschuldet habe, und deshalb werde ich versuchen, eurem Onkel gegenüberzutreten. Das ist es, was ich tun kann.«
»Du willst ihn also erwarten?« fragte Rastu.
»Ja.«
»Ist er denn der Killer?«
Bogan senkte den Kopf. »Das ist er nicht. Der oder die Killer sind seine Puppen.«
Poleno lachte kurz auf. »Die toten Puppen aus Ziegen- oder Schafsfell?«
»Sie sind nicht tot. Sie leben.«
»Was?« schrie Shida.
»Ja, sie leben, weil euer Onkel ein Magier geworden ist, der mit den Göttern paktiert und sie überredet hat, ihm diese Kräfte zu geben. Er kann die Puppen in mordende Monster verwandeln. Er kann dafür sorgen, daß sich die Scherenschnitt-Figuren selbständig machen und diese dann aussehen wie Schatten. Jedenfalls sind sie so lautlos. Das alles müßt ihr mir glauben, das sind die Tatsachen.«
»Unglaublich!« flüsterte Rastu.
»Aber wahr.« Bogan nickte. »Ihr kennt jetzt die Geschichte und die Hintergründe. Es gibt den Haß zwischen uns, der auf eurem Rücken ausgetragen werden soll. Konda hat es mir nie verziehen, daß ich mich nicht auf seine Seite stellte.«
»Und das reicht ihm?«
»Ja, Shida, ja, das reicht ihm, denn er ist abgrundtief böse. Die finsteren Götter haben die Kontrolle über ihn bekommen, denn sie waren es, die für die Ursprünge dieser alten Geschichten sorgten, die dann gespielt werden konnten. Es gibt da eine Verbindung, die auch einen Namen hat. Eben den Wayang-Kult.«
»Wird er herkommen?« fragte Poleno.
»Ja.«
»Und was wird geschehen?«
»Er wird versuchen, uns alle umzubringen. Er wird ein Blutbad hinterlassen. Er und seine Helfer.«
Die Geschwister kamen mit den harten und direkt gesprochenen Worten nicht zurecht. Es war eine völlig andere Diktion für sie. Aber auch die Heimat war ihnen fremd geworden. Sie kannten diese nur von kurzen Besuchen oder aus Beschreibungen. Dafür waren sie voll integriert in eine Stadt, die als Hexenkessel der Gefühle und Innovationen angesehen werden konnte.
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