069 - Ein gerissener Kerl
London verhungert. Wenn Sie mich jetzt zum Abendessen einladen, Mr. Braid, vergehe ich vor Scham. Immer haben die Leute von mir den Eindruck eines Knickers; dabei bin ich der freigebigste Mensch auf Gottes Erdboden. Ich habe mehr Leuten Kost und Logis verschafft, als irgendeiner meiner Bekannten. Auf Jahre hinaus. Aber wenn Sie mich doch zum Abendessen einladen — ich kann so schlecht nein sagen —, wie denken Sie über Kirro? Wenn man auf dem Balkon ißt, braucht man sich noch nicht einmal umzuziehen, und bis eins gibt's fabelhafte Getränke.«
»Kirro ist die Losung«, lachte Tony, »wenn Sie nicht lieber zu mir nach Hause kommen.«
»Ihre Küche schmeckt mir nicht«, lehnte Elk scherzhaft ab. »Zunächst bitte ich Sie, mich am Präsidium abzusetzen. In einer Viertelstunde bin ich wieder bei Ihnen — ich will nur erst dieses Paket an einem sicheren Ort verstauen.«
Man setzte Elk also an dem düsteren Tor von Scotland Yard — und einen Steinwurf entfernt von jener Stelle ab, an der ein leichter Sommermantel über das Geländer der Brücke geflattert war, geradewegs auf den Kopf eines erstaunten Schiffers.
Obwohl es im Saal bei Kirro ziemlich lebhaft zuging, war der Balkon verödet, denn die Theater hatten noch nicht geschlossen.
»Ein drolliger Mensch, dieser Elk«, sagte Tony in Gedanken. »Man weiß nie, was in seinem Kopf vorgeht, und dabei scheint er Gott weiß wie durchsichtig.«
»Ich mache mir große Sorgen wegen des Zettels und des Mantels«, klagte Ursula gequält. »Ich habe das unangenehme Gefühl, daß etwas Schreckliches dabei herauskommt — und daß ich irgendwie mit hineingezogen werde.«
Auf dem Weg von Woolwich war sie sehr still gewesen, und seit sie Greenwich verlassen hatten, hatte sie kaum ein Wort gesprochen.
»Ich hab' so ein quälendes Gefühl dabei, Tony. Haben Sie eine Ahnung, was hinter diesem Fund steckt?«
»Selbst wenn ich es wüßte, würde ich es Ihnen nicht verraten«, wich er aus.
Er blickte sie bekümmert an. Sie war erschreckend bleich. Er äußerte seine Besorgnis.
»Machen Sie sich keine Gedanken«, wehrte sie ab. »Es ist nichts. Nur dieses gräßliche Haus in Greenwich. Als ich noch klein war, sagte meine Erzieherin immer, wenn ich plötzlich erschauerte, jemand gehe über mein Grab. Genau dasselbe Gefühl hatte ich in dieser grauenvollen Straße.
Aber es ist bestimmt nicht Hysterie. Mr. Elk sagt ja, ich hätte Instinkt, und hätte ich ihn ermutigt, hätte er mich als ›Instinkt-Dame‹ an Scotland Yard empfohlen.«
»Sagen Sie mal, Ursula, aber ganz aufrichtig: hat Guelder Ihnen irgend etwas getan?«
Sie schüttelte den blonden Kopf.
»Nein. Und doch, Tony ... als ich vorhin in seiner Straße war, ertappte ich mich plötzlich dabei, daß ich ihm den Tod wünschte! Ich verstehe mich selbst nicht. Es ist irgend etwas Gespenstisches. Ich habe noch nie einem Menschen gegenüber solch entsetzliche Gedanken gehegt. Und habe nicht den geringsten Anlaß. Im Gegenteil, er war gegen mich immer außerordentlich liebenswürdig und tat furchtbar freundlich. Und doch werde ich das Gefühl nicht los, daß er mir irgendein schreckliches Leid antun wird. Und jedesmal, wenn ich sein blödes, feistes Gesicht sehe, möchte ich hineinschlagen.«
Sie bebte, ihr Atem ging hastig. Er hatte sie niemals so heftig und unbeherrscht gesehen. Er führte ihre Erregung auf ihr kürzlich erlebtes Leid zurück, hielt sie für übermüdet und überreizt.
»Wir haben ja Elk«, beruhigte er sie. »Sie haben nichts zu fürchten.«
»Gottlob, daß wir Elk haben!« flüsterte sie.
»Was ist mit Elk?« fragte der Detektiv, der plötzlich am Tisch stand und sich setzte.
Sie fuhr nervös auf.
»Sie konnten doch unmöglich meine Worte hören!«
»Ich habe es Ihnen von den Lippen abgelesen — eine leichte Aufgabe, wenn man Übung hat. Sehen Sie den jungen Mann dort unten?«
Er zeigte auf einen jungen Mann, der an einem der Tische neben einem sehr hübschen Mädchen saß und sich temperamentvoll zu ihr vorbeugte. »Wissen Sie, was er ihr sagt? Sie dürfen dreimal raten.«
»Sicher etwas sehr Liebes«, riet Ursula.
»Er spricht über Creme — Schuhcreme«, berichtete Elk und beobachtete scharf den ahnungslosen Herrn. »Jetzt weiß ich's genau — er erzählt ihr, wo er die Wichse für seine Jagdstiefel kauft.«
»Unmöglich!« lachte Ursula.
Elk dozierte:
»Eine Lebensweisheit müssen Sie sich einprägen, junge Dame: Die Menschen sprechen immer über das, was man nicht erwartet. Sie
Weitere Kostenlose Bücher