07 - Asche zu Asche
Leberwurstschnittchen.
»Jimmy hat gestern abend geheult, Mam«, verriet er.
Jean horchte auf, aber sie sagte nur: »Weinen ist etwas ganz Natürliches. Mach du dich deshalb nicht über deinen Bruder lustig.«
Stan, der die Schnitte aufgeklappt hatte, leckte genießerisch die Leberwurst vom Brot. »Er hat gedacht, ich hör's nicht, weil ich nichts gesagt hab. Aber ich hab's genau gemerkt. Er hat den Kopf ins Kissen gedrückt und hat in die Matratze gehauen und immer >scheiß drauf< gesagt.« Stan fuhr zurück, als Jean drohend die Hand hab. »Er hat's gesagt, Mam. Nicht ich. Ich erzähl's dir nur.«
»Das will ich hoffen.« Jean füllte die anderen Tassen. »Und was noch?« fragte sie leise.
Stan kaute das blanke Brot. »Er hat geflucht. ›Mistkerl‹ hat er gesagt. ›Scheiß auf dich, du Schwein‹, hat er gesagt. Und dabei hat er geheult.« Stan schluckte. »Ich glaub, er hat wegen Dad geheult. Und ich glaub, er hat auch von Dad geredet. Er hat die ganzen Segelschiffe von ihm kaputtgemacht, hast du gesehen?«
»Ja, das habe ich gesehen, Stan.«
»Und wie er's getan hat, hat er dauernd ›scheiß auf dich, scheiß auf dich‹ gesagt.«
Jean setzte sich ihrem Jüngsten gegenüber und umfaßte mit einer Hand sein schmales Handgelenk. »Du erfindest doch diese Geschichten nicht, Stan?« sagte sie. »Das wäre nämlich gar nicht schön.«
»Ich würd nie -«
»Gut. Denn Jimmy ist dein Bruder, und seinen Bruder muß man liebhaben. Er macht jetzt eine schlimme Zeit durch, aber er wird sich schon wieder fangen.« Noch während sie sprach, spürte sie den Schmerz, der nie vergangen war. Auch Kenny hatte eine schlimme Zeit durchgemacht, eine Zeit, die schlimm begonnen hatte und immer schlimmer geworden war.
»Jimmy sagt, er will keinen bescheuerten Tee. Aber er hat nicht ›bescheuert‹ gesagt, sondern was anderes.« Shar flatterte wie einer ihrer Vögel mit mehreren großen Bögen Zeichenpapier in die Küche. Sie schob Jimmys Gedeck zur Seite und glättete das Papier auf dem Tisch. Dann nahm sie sich ein Brötchen und biß hinein, während sie ihr Werk betrachtete, das Bild eines weißköpfigen Seeadlers, der hoch über Tannenwipfeln schwebte. Die Tannen waren so klein, daß der Adler wie ein Vetter von King Kong aussah.
»Er hat ›beschissen‹ gesagt, stimmt's?« Stan preßte mit den Fingerspitzen kleine Halbmonde in den Rand seines Butterbrötchens.
»Das reicht jetzt«, mahnte Jean. »Und wisch dir den Mund ab. Shar, sieh zu, daß dein Bruder sich bei Tisch manierlich benimmt. Ich seh inzwischen mal nach Jim.«
Sie kramte in dem Schrank neben dem Spülbecken und holte ein angeschlagenes Plastiktablett heraus, apfelgrün mit Vergißmeinnichtsträußchen. Sie und Ken hatten es zur Hochzeit geschenkt bekommen. Genau das Richtige, hatte sie damals gedacht, um Kekse oder Brötchen herumzureichen, wenn ich Gäste habe. Doch dafür hatte sie das Tablett nie gebraucht, sondern immer nur dazu, diesem oder jenem Kind, das mit einer Erkältung oder Grippe oben zu Bett lag, das Essen hinaufzubringen. Sie stellte Jimmys Tasse darauf, gab Milch und Zucker in seinen Tee, so wie er es mochte, wählte einige Brötchen und Kekse aus.
»Muß er denn nicht runterkommen, Mam?« fragte Stan, als sie mit dem Tablett zur Treppe ging. »Du sagst doch immer, wenn's uns gutgeht, können wir auch hier unten essen.«
»Das ist wahr«, stimmte Jean zu. »Aber Jim geht es im Moment nicht gut. Das hast du mir doch selbst erzählt.«
Shar hatte Jimmys Zimmertür nicht ganz hinter sich geschlossen. Jean rief: »Jim?« und stieß die Tür dann mit dem Hinterteil auf. »Ich hab dir deinen Tee gebracht.«
Er saß auf seinem Bett, den Rücken an das Kopfteil gelehnt, und als sie mit dem Tablett ins Zimmer trat, schob er schnell etwas unter sein Kissen und stieß dann hastig die Schublade seines Nachttischs zu. Jean tat so, als bemerkte sie nichts. Sie hatte in den letzten Monaten mehr als einmal in dieser Schublade gekramt. Sie wußte, was er dort aufbewahrte. Sie hatte mit Ken über die Fotos gesprochen, und er war besorgt genug gewesen, um vorbeizukommen, während Jimmy in der Schule gewesen war. Auf dem Bett seines Älteren sitzend, die langen Beine auf den abgetretenen Teppichfliesen von sich gestreckt, hatte er die Fotos selbst durchgesehen und sorgfältig darauf geachtet, sie nicht durcheinanderzubringen. Er hatte amüsiert gelacht beim Anblick dieser Frauen, ihrer aufreizenden Beine und dieser vollendet geformten, unnatürlich
Weitere Kostenlose Bücher