07 - Asche zu Asche
mitgenommen.« Ihre Hände zitterten, und sie umfaßte den Ball fester. »Ich merke, daß ich nun doch zu alt geworden bin, Inspektor. Ich verstehe nichts und niemanden mehr. Männer und Frauen. Verheiratete Paare. Eltern und Kinder. Keinen verstehe ich mehr.«
Lynley hatte die Gelegenheit genutzt, um sie zu fragen, warum sie ihm nicht vom Besuch ihrer Tochter am Abend von Flemings Tod erzählt hatte. Einen Moment lang schwieg sie. Das Ticken der alten Standuhr dröhnte fast in der Stille.
»Sie haben also mit Olivia gesprochen«, meinte sie schließlich leise, in einem Ton, der mutlos und verzagt klang.
Er erwiderte, er habe zweimal mit Olivia gesprochen, und da sie beim erstenmal nicht die Wahrheit darüber gesagt habe, wo sie am Abend des Todes von Kenneth Fleming gewesen war, frage er sich, was für Lügen sie ihm sonst noch aufgetischt habe. Oder auch ihre Mutter, die ihn ja ebenfalls belogen habe.
»Ich habe bewußt etwas verschwiegen«, entgegnete Miriam Whitelaw. »Gelogen habe ich nicht.« Sie erklärte, genau wie ihre Tochter, allerdings weit gelassener und resignierter, daß der Besuch mit Flemings Tod nichts zu tun habe, daß sie Olivias Privatsphäre verletzt hätte, wenn sie ihm davon erzählt hätte. Und Olivia habe ein Recht auf ihr Privatleben, erklärte sie mit Nachdruck. Es sei eines der wenigen Dinge, die ihr geblieben seien.
»Ich habe sie beide verloren. Ken - Ken jetzt. Und Olivia ...«
Sie hob den Cricket-Ball an die Brust und hielt ihn dort, als helfe es ihr, weiterzusprechen. »Olivia bald. Auf eine so grausame Weise, daß ich, wenn ich daran denke - ach, ich kann es kaum ertragen, daran zu denken ..., daß ihr die Beherrschung über ihren Körper geraubt werden wird, ihr Stolz, und daß sie diese Demütigung bis zu ihrem letzten Atemzug bei vollem Bewußtsein wahrnehmen wird ... Sie war immer so stolz, meine Tochter Olivia. Sie war so hochmütig. Sie war wild und ungezähmt und brachte mein Leben jahrelang immer wieder in schrecklichsten Aufruhr, bis ich sie schließlich nicht mehr ertragen konnte und den Tag segnete, an dem sie mich so weit trieb, daß ich ganz mit ihr brechen konnte.« Sie schien nahe daran, die Fassung zu verlieren, aber sie bekam sich wieder in den Griff. »Nein, ich habe Ihnen nicht von Olivia erzählt, Inspektor. Ich konnte es nicht. Sie stirbt. Es war schlimm genug, über Ken sprechen zu müssen. Auch noch über Olivia zu sprechen - das wäre über meine Kräfte gegangen.«
Aber nun wirst du es doch tun müssen, dachte Lynley und fragte sie, warum Olivia sie aufgesucht hatte. Um Frieden zu schließen, antwortete Miriam Whitelaw. Um Hilfe zu erbitten.
»Die sie jetzt, wo Fleming tot ist, viel leichter bekommen wird«, erwiderte Lynley.
Sie lehnte den Kopf an die hohe Lehne des Sessels und sagte mit großer Müdigkeit: »Warum glauben Sie mir nicht? Olivia hatte mit Kens Tod nichts zu tun.«
»Olivia selbst vielleicht nicht«, meinte Lynley und wartete auf ihre Reaktion.
Sie blieb reglos, den Kopf immer noch abgewandt, in der Hand den Cricket-Ball. Fast eine Minute der Stille verrann, ehe sie ihn fragte, was er damit meine.
Darauf hatte er ihr das gesagt, worüber er jetzt, hier, in seinem Wohnzimmer, noch nachsann; worüber er schon beim Abendessen mit Barbara Havers gegrübelt hatte: daß nämlich Chris Faraday, genau wie Olivia, am Mittwoch abend ausgegangen und die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen war. Ob Mrs. Whitelaw davon wisse? Nein, davon wisse sie nichts.
Lynley erzählte nichts von Faradays Alibi. Aber eben dieses Alibi war es, das ihm seit dem Moment, als er und Barbara Havers das Hausboot verlassen hatten, keine Ruhe mehr ließ.
Faradays Aussage darüber, wo er Mittwoch nacht gewesen war und was er getan hatte, hatte wie auswendig gelernt geklungen. Er hatte die Einzelheiten fast ohne zu zögern heruntergeleiert. Die Aufzählung der Partygäste, die Liste der Filme, die sie ausgeliehen hatten, Namen und Adresse der Videothek. Daß Faraday all diese Details so flink zur Hand gehabt hatte, roch nach eingehender Vorbereitung. Vor allem auch seine genaue Erinnerung an die Filme, nicht etwa große Hollywood-Produktionen mit Stars, deren Namen einem fast so vertraut waren wie der eigene, sondern kleine Pornofilmchen mit obskuren Schauspielern und unbekannten Titeln. Und wie viele dieser Titel hatte er mühelos aufgezählt? Zehn? Zwölf? Barbara Havers hätte vorgebracht, sie könnten ja jederzeit in der Videothek nachfragen, wenn Lynley
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