07 - Asche zu Asche
schließlich kein kleines Kind. Ich schaff das schon.«
Er kreuzte die Arme vor der Brust und starrte mir prüfend ins Gesicht. Aber beim Spiel mit Lüge und Wahrheit war Chris Faraday mir noch nie gewachsen gewesen.
»Fahr schon«, drängte ich wieder. »Die anderen warten auf dich.«
»Aber du rufst Max an, wenn es Schwierigkeiten gibt?«
»Es wird keine Schwierigkeiten geben.«
»Aber wenn ...«
»Ja, dann rufe ich Max an. Jetzt mach dich auf die Socken. Laß die anderen nicht warten.«
Er kam zum Sofa, beugte sich zu mir herab und küßte mich auf die Wange. »Gut«, sagte er. »Dann fahr ich jetzt.« Aber er zögerte immer noch. Ich glaubte schon, er hätte die Wahrheit erraten und würde gleich sagen: Deine Mutter hat keine Ahnung, stimmt's, Livie? Statt dessen jedoch kaute er einen Moment auf seiner Unterlippe und sagte dann: »Ich hab dich im Stich gelassen.«
»Blödsinn« entgegnete ich und schob ihn ein wenig von mir weg. »Fahr. Bitte. Ich will dich nicht dabeihaben, wenn ich mit meiner Mutter rede.«
Diese Worte wirkten. Ich hielt den Atem an, bis ich hörte, wie die Haustür hinter ihm zufiel. Dann ließ ich mich an die von üppigen Schnörkeln gekrönte Lehne des alten Sofas sinken und lauschte, um die Abfahrt des Lieferwagens mitzubekommen. Aber Frank Sinatras Stimme übertönte alle Straßengeräusche. Als jedoch die Minuten verrannen, ohne daß Chris zurückkehrte, entspannte ich mich langsam. Es war mir gelungen, wenigstens einen Teil meines Plans durchzuführen, ohne als Lügnerin entlarvt zu werden.
Der Wagen, hatte Chris gesagt, stehe in der Garage. Überall brannten die Lichter. Der Plattenspieler lief. Sie waren bestimmt irgendwo in der Nähe - Kenneth Fleming und meine Mutter. Ich war ohne ihr Wissen ins Haus eingedrungen; ich hatte den Überraschungsvorteil auf meiner Seite. Nun mußte ich ihn nur noch nutzen.
Ich begann zu planen. Welche Haltung ich einnehmen würde. Was ich sagen würde; welche Plätze ich ihnen zuweisen würde; ob ich die ALS beim Namen nennen oder lediglich vage von meinem »Zustand« sprechen sollte. Frank Sinatra sang unterdessen unverdrossen weiter: Nach »New York, New York« kam »Cabaret«, dann »Anything Goes«. Danach folgte Schweigen. Jetzt ist es soweit, dachte ich. Sie waren die ganze Zeit im Haus. Chris hat ja im obersten Stockwerk gar nicht nachgesehen. Sie waren in meinem früheren Zimmer. Jetzt kommen sie die Treppe herunter, gleich werden wir uns Auge in Auge gegenüberstehen, ich muß - Ein Tenor begann zu singen. Es war eine italienische Opernarie, und die Stimme des Sängers schraubte sich in schwindelerregende Höhen. Jede Arie verlangte dem Tenor derartige Kunststücke ab, daß es sich hier nur um eine Platte mit den größten Erfolgen irgendeines Komponisten handeln konnte. Verdi vielleicht. Wer hatte noch italienische Opern geschrieben? Ich zerbrach mir den Kopf über diese Frage und bemühte mich, auf andere Namen zu kommen. Nach einer Weile wurde es wieder still. Dann sangen Michael Crawford und Sarah Brightman Stücke aus dem Phantom der Oper. Ich sah auf meine Uhr. Sinatra und der Tenor hatten länger als eine Stunde gejodelt. Es war Viertel vor zwölf.
Im Eßzimmer gingen plötzlich die Lichter aus. Ich schreckte hoch. War ich eingenickt, ohne es zu merken, und hatte Mutters Rückkehr verpaßt? »Mutter?« rief ich. »Bist du das? Hallo?«
Nichts rührte sich. Mir schlug das Herz plötzlich bis zum Hals.
»Mutter?« rief ich wieder. »Ich bin's, Olivia. Ich bin hier im kleinen -« Da schaltete sich auch die kleine Lampe im kleinen Salon aus. Sie steht auf einem Tisch in dem Erkerfenster, das zum Garten hinausführt. Sie hatte schon gebrannt, als ich ins Zimmer gekommen war, und ich hatte keine zweite angeknipst. Nun saß ich also in tiefster Dunkelheit und überlegte, was, zum Teufel, eigentlich vorging.
In den nächsten fünf oder zehn Minuten, die mir wie eine Ewigkeit schienen, passierte gar nichts. Crawford und Brightman beendeten ihr Duett, und Crawford stürzte sich allein in »The Music of the Night«. Nach etwa zehn Takten brach der Gesang mitten im Wort ab, als hätte jemand gesagt: »Jetzt reicht's aber«, und einfach den Stecker aus der Wand gezogen. Stille schlug über dem Haus zusammen. Ich wartete auf irgendein Geräusch - Schritte, gedämpftes Gelächter, ein Seufzen, das Knarren eines Möbelstücks -, das von menschlicher Anwesenheit künden würde. Aber ich hörte nichts.
»Mutter?« rief ich. »Bist du hier?
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