07 - Asche zu Asche
so wie ich es gelernt habe, eine Minute ab: eintausendeins, eintausendzwei und so weiter. Ich müßte bis dreihundert kommen, aber sechzig ist im Augenblick etwa meine Grenze. Und sogar da beginne ich bei eintausendvierzig gern zu hetzen, um zum Ende zu kommen. Ich nenne diese Minute »eine Ruhepause einlegen«, das soll ich nämlich mehrmals am Tag tun. Ich weiß nicht, warum. Ich glaube, das raten sie einem, wenn sie nichts Produktives mehr zu sagen haben. Sie möchten gern, daß man die Augen zumacht und langsam davonschwebt. Gegen diese Vorstellung wehre ich mich. Das ist ja ungefähr so, als verlangte man von einem Menschen, sich mit dem Unausweichlichen abzufinden, noch ehe er dazu bereit ist, nicht wahr?
Aber das Unausweichliche ist etwas Schwarzes, Kaltes und Unendliches, während ich hier auf dem Hausboot in meinem Leinensessel rote Streifen von Sonnenlicht unter meinen Lidern sehe und die Wärme wie sanfte Finger auf meinem Gesicht spüre. Mein Pulli saugt die Hitze auf. Und alles - besonders die Welt - erscheint so vergeß ...
Tut mir leid. Ich bin total abgedriftet. Ich habe nämlich das Problem, daß ich mich nachts immer gegen den Schlaf wehre, und da erwischt er mich natürlich manchmal aus heiterem Himmel am Tag. Eigentlich ist es besser so, weil es etwas sehr Friedliches ist, so als würde man mit der Flut langsam vom Ufer weggespült. Und die Träume, die man am Tag hat, das sind die schönsten.
Ich habe meinen Vater umgebracht. Mit diesem Wissen lebe ich neben allem anderen. Chris behauptet, ich trüge bei weitem nicht das Maß an Schuld an Dads Tod, das ich mir offensichtlich aufbürden wolle. Aber Chris kannte mich damals nicht. Er hatte mich damals noch nicht aus dem Müll ausgegraben und auf diese absolut logische Art, über die er verfügt, herausgefordert, statt groß zu tönen, lieber was zu tun und zu zeigen, was ich konnte. Ich habe ihn später gefragt, warum er sich überhaupt mit mir eingelassen hat; er zuckte die Achseln und meinte:
»Instinkt, Livie. Ich habe gesehen, was du bist. Ich konnte es in deinen Augen lesen.«
Ich erwiderte: »Es ist doch nur, weil ich dich an sie erinnere.«
»Sie?« fragte er. »Wen meinst du?« Aber er wußte genau, wen ich meinte, und wir wußten beide, daß es wahr war. Aber Tatsache ist, daß Chris in mir immer mehr gesehen hat, als tatsächlich da ist. Er unterstellt mir ein gutes Herz. Aber ich habe gar kein Herz.
Ich hatte schon damals keines, als ich das letztemal meinem Vater von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand.
Ich traf Mutter und Dad an einem Freitagabend direkt am U-Bahnhof Covent Garden. Sie waren in der Oper gewesen. Sogar in meiner damaligen Verfassung konnte ich das erkennen. Meine Mutter war von Kopf bis Fuß in Schwarz und trug eine vierreihige Perlenkette. Dad war im Smoking und roch nach Lavendel. Sein Haar war frisch geschnitten und viel zu kurz. Irgendwo hatte er ein Paar Lackschuhe ausgegraben, die er auf Hochglanz poliert hatte.
Ich hatte sie beide seit dem Tag nicht mehr gesehen oder gesprochen, an dem ich Dad angerufen und um Hilfe gebettelt hatte. Beinahe zwei Jahre waren seitdem vergangen. Ich hatte in sechs verschiedenen Jobs gearbeitet, fünf Wohngenossen verschlissen, und lebte, wie ich es für richtig hielt, ohne irgend jemandem Rechenschaft ablegen zu müssen.
Ich war mit zwei Männern unterwegs, Barry und Clark, die ich in der King Street in einem Pub kennengelernt hatte. Wir wollten zu einer Fete in Brixton, bei der es heiß hergehen sollte. Ich jedenfalls wollte dorthin. Die beiden Kerle hatten sich angehängt. Wir hatten auf dem Männerklo ein bißchen gekokst und danach - als alles viel lustiger aussah als sonst - hatten wir uns mit Verhandlungen über einen flotten Dreier amüsiert.
Es ekelt Sie, wenn Sie das lesen, nicht? Weil Ihr Leben anders verlaufen ist als meines, richtig? Ich denke mir, daß Sie nie Drogen genommen haben und daher auch nicht wissen können, daß man am Ende bereit ist, dafür durch stinkenden Schleim zu robben und es mit Männern für Geld zu treiben. Das übersteigt Ihr Vorstellungsvermögen, was?
Ich weiß jedenfalls bis heute nicht, was meine Eltern an dem Abend am U-Bahnhof zu suchen hatten. Mutter nimmt eigentlich immer ein Taxi, wenn sie aus irgendeinem Grund nicht mit dem eigenen Wagen fahren kann. Es würde ihr nicht im Traum einfallen, sich in ein öffentliches Verkehrsmittel zu setzen. Dad hatte nie etwas gegen die U-Bahn gehabt. Für ihn war eine Fahrt mit der U-Bahn
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