07 - Asche zu Asche
und Ähnliches. Er beugte sich dann in seinem Sessel nach vorn, die Ellbogen auf die Knie gestützt und die Hände unter dem Kinn zusammengelegt, und sagte ganz ernsthaft:
»Du solltest mal hören, wie du sprichst. Achte mal darauf, was deine Worte aussagen. Erkennst du nicht, daß diese Begrenztheit deiner Sicht das Symptom eines viel größeren Übels ist, Livie? Und das Faszinierende daran ist, daß man dir im Grund keinen Vorwurf daraus machen kann. Der Vorwurf muß sich an die Gesellschaft richten. Denn wo sonst entwickeln wir unsere Einstellungen, wenn nicht im Rahmen der Gesellschaft, in der wir uns bewegen?«
Und mir blieb der Mund offen stehen. Ich hätte gern losgeballert. Aber mit einem Menschen, der keine Waffe trägt, kann man nicht kämpfen.
Es ist still. Ich finde diese Stille immer wieder sonderbar, denn man sollte doch meinen, daß man hier die Geräusche von der Warwick Avenue, der Harrow Road oder einer der beiden Brücken hören würde, aber da wir uns unter Straßenhöhe befinden, wird der Schall offenbar über uns hinweggetragen. Chris könnte es mir sicher erklären. Früher glaubte ich, er dächte sich diese Erklärungen, die er für alles hat, einfach aus. Ich meine, wer ist er denn schon? Ein magerer Kerl mit pockennarbigen Wangen, der sein Studium geschmissen hat, um »wirklich etwas zu verändern, Livie. Das geht nur auf eine bestimmte Weise. Und sicher nicht, indem man sich in die Struktur einfügt, die das Monster am Leben hält«. Ich dachte, jemand, der so unbekümmert seine Metaphern durcheinanderschmiß, könnte wohl kaum gebildet genug sein, um überhaupt etwas zu wissen, geschweige denn, an einer großen gesellschaftlichen Veränderung in der Zukunft Anteil zu haben. Ich pflegte darauf also äußerst gelangweilt zu erwidern: »Ich glaube, du meinst ›die das Gebäude trägt‹«, um ihn in Verlegenheit zu bringen. Da sprach die Tochter meiner Mutter, der Lehrerin und großen Aufklärerin.
Diese Rolle spielte Miriam Whitelaw anfangs in Kenneth Flemings Leben. Aber das wissen Sie wahrscheinlich schon, da es ja Teil der Fleming-Legende ist.
Kenneth und ich sind gleichaltrig, obwohl ich Jahre älter aussehe. Aber unsere Geburtstage liegen tatsächlich nur eine Woche auseinander; das erfuhr ich, neben vielen anderen Einzelheiten über Kenneth, zu Hause beim Abendessen, zwischen Suppe und Nachtisch. Zum erstenmal hörte ich von ihm, als wir beide fünfzehn waren. Er war Schüler in der Förderklasse meiner Mutter auf der Isle of Dogs. Er wohnte damals mit seinen Eltern in Cubitt Town, und seine sportliche Begabung demonstrierte er vor allem auf den Spielfeldern in den feuchten Flußniederungen des Millwall Park. Ich weiß nicht, ob die Gesamtschule eine Cricket-Mannschaft hatte. Wahrscheinlich schon, und es kann gut sein, daß Kenneth in der ersten Mannschaft spielte. Aber wenn das zutrifft, so ist das ein Teil der Legende, von dem ich nie gehört habe. Und ich habe das meiste erfahren, das können Sie mir glauben, Abend für Abend, bei Roastbeef, Brathuhn, gebackener Scholle und Schweinekotelett.
Ich war nie Lehrerin, daher weiß ich nicht, wie es ist, wenn man einen Paradeschüler hat. Und da ich niemals diszipliniert oder interessiert genug war, um für die Schule zu lernen, weiß ich erst recht nicht, was sich abspielt, wenn man ein Paradeschüler ist und unter den Lehrern einen Mentor oder, wie in diesem Fall, eine Mentorin findet. Genauso nämlich standen Kenneth Fleming und meine Mutter von Anfang an zueinander.
Ich glaube, er war das, wovon sie immer wußte, daß sie es eines Tages finden würde: das Pflänzchen, das dank ihrer Pflege und Ermutigung aus der schlammigen Flußerde und der Eintönigkeit der Sozialbauten auf der Isle of Dogs wachsen und gedeihen würde. Er gab ihrem Leben den Sinn, den sie gesucht hatte.
In der zweiten Woche des Herbsttrimesters begann sie von »diesem intelligenten Jungen, den ich in meiner Klasse habe« zu sprechen. So führte sie ihn bei Dad und mir als regelmäßiges Tischgesprächsthema ein. Er sei redegewandt, erzählte sie uns. Er sei amüsant. Er sei selbstironisch auf eine ungemein charmante Weise. Er gehe mit seinen Altersgenossen und den Erwachsenen völlig unbefangen um. Im Unterricht beweise er immer wieder ein erstaunliches Verständnis für Thema, Motiv und Charakter, wenn sie Dickens, Austen, Shakespeare oder die Bronte's besprachen. In seiner Freizeit lese er Sartre und Beckett. Beim Mittagessen setze er sich mit Pinter
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