07 - Asche zu Asche
Militärtransporter mit Soldaten hinten auf den Bänken. Sie überholten einen Pferdetransporter und drei Wohnwagen, die im Schneckentempo dahinkrochen. Als sie vor einer Ampel abbremsten, sagte Miriam Whitelaw: »Mich haben sie auch schon angerufen.«
»Die Zeitungen?« Lynley warf wieder einen Blick in den Spiegel. Sie hatte sich vom Fenster abgewandt und ihre Brille mit einer Sonnenbrille vertauscht. »Wann denn?«
»Heute morgen. Ich bekam zwei Anrufe, ehe Sie sich meldeten. Und drei danach.«
»Wegen der Zigarette?«
»Ach, denen hätte ich sagen können, was ich wollte. Die hätten alles geschrieben. Ob Wahrheit oder Lüge. Ich weiß nicht, ob sie das überhaupt interessiert hätte. Hauptsache, es wäre etwas über Ken gewesen.«
»Sie brauchen nicht mit ihnen zu reden.«
»Ich habe auch mit keinem gesprochen.« Sie sah wieder zum Fenster hinaus und sagte dabei mehr zu sich selbst als zu ihnen:
»Wozu auch? Es würde ja doch keiner verstehen.«
»Verstehen?« fragte Lynley wie beiläufig, während er augenscheinlich seine ganze Aufmerksamkeit auf die Straße richtete.
Miriam Whitelaw antwortete nicht sofort. Als sie schließlich sprach, war ihre Stimme leise. »Wer hätte denn so etwas gedacht«, sagte sie. »Ein junger Mann von zweiunddreißig Jahren - vital, männlich, sportlich, kraftvoll - entscheidet sich tatsächlich dafür, nicht mit einem jungen Mädchen mit straffem Körper und glatter Haut zusammenzuleben, sondern mit einer vertrockneten alten Frau. Mit einer Frau, die vierunddreißig Jahre älter ist als er. Alt genug, seine Mutter zu sein. Ja, zehn Jahre älter sogar noch als seine leibliche Mutter. Das ist doch obszön, nicht wahr?«
»Eher kurios, würde ich sagen. Die Situation ist ungewöhnlich. Aber das wissen Sie ja.«
»Natürlich. Ich habe das Getuschel und Gekicher mitbekommen. Ich habe den Klatsch gelesen. Eine ödipale Beziehung. Die Unfähigkeit, sich aus der frühkindlichen Bindung zu befreien, die sich in dieser Wahl der Lebensumstände und seinem Zögern, seine Ehe zu lösen, zeige. Das Versäumnis, Kindheitskonflikte mit der Mutter zu klären, daher die Suche nach einer ›besseren Mutter‹. Oder mich betreffend: mangelnde Bereitschaft, die Realität des Alters zu akzeptieren. Geltungsbedürfnis, das in meiner Jugend nicht befriedigt wurde. Das Bestreben, mich dadurch zu beweisen, daß ich einen jüngeren Mann beherrsche. Jeder hat eine Meinung. Keiner akzeptiert die Wahrheit.«
Barbara Havers drehte sich in ihrem Sitz herum, so daß sie Miriam Whitelaws Gesicht sehen konnte. »Uns würde die Wahrheit interessieren«, sagte sie. »Sie müssen sie uns sogar sagen.«
»Was hat meine Beziehung zu Ken mit seinem Tod zu tun?«
»Jede menschliche Beziehung Flemings kann mit seinem Tod zusammenhängen. Es kommt ganz auf die Art der Beziehung an«, versetzte Lynley.
Sie nahm wieder ihr Taschentuch und begann mit gesenktem Blick, es wieder und wieder zu falten, bis es nur noch ein langer schmaler Stoffstreifen war. Dann sagte sie: »Ich kannte ihn seit seinem fünfzehnten Lebensjahr. Er war ein Schüler von mir.«
»Sie sind Lehrerin?«
»Jetzt nicht mehr. Damals habe ich auf der Isle of Dogs unterrichtet. Er war in einer meiner Englischklassen. Ich lernte ihn näher kennen, weil er ...« Sie räusperte sich. »Er war unglaublich intelligent. Ein Genie, so nannten ihn die anderen Kinder, und sie mochten ihn alle, weil er freundlich mit ihnen umging; so freundlich wie mit sich selbst. Er wußte damals schon, wer er war, und hatte es überhaupt nicht nötig, sich oder den anderen etwas vorzumachen. Und ebensowenig brauchte er es den anderen unter die Nase zu reiben, daß er begabter war als sie. Das hat mir gefallen. Und anderes auch noch. Er hatte Träume. Das bewunderte ich. Das war für einen Teenager aus dem East End damals etwas sehr Ungewöhnliches. Zwischen uns entwickelte sich eine Freundschaft. Ich bemühte mich, ihn zu fördern und auf den richtigen Kurs zu bringen.«
»Und wie sah der aus?«
»Höhere Schule. Danach ein Universitätsstudium.«
»Und hat das geklappt?«
»Er hat nur die Anfangsklasse absolviert. In Sussex. Mit einem Stipendium der Schulbehörde. Danach kehrte er nach Hause zurück und fing in der Druckerei meines Mannes an. Kurz danach heiratete er.«
»Jung.«
»Ja.« Sie entfaltete das Taschentuch, breitete es auf ihrem Schoß aus, strich es glatt. »Ja. Ken war jung.«
»Sie kannten das Mädchen, das er heiratete?«
»Ich war nicht
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