07 Von fremder Hand
doch was für sie tatsächlich den Ausschlag gegeben hatte, war die Aussicht auf die paar Stunden im Zug, in denen sie von sämtlichen Verpflichtungen und Forderungen frei sein würde.
»Du könntest ja ein paar Hintergrundinformationen sammeln.«
»Neben den dreitausend anderen Dingen, die am Montagmorgen zu erledigen sind. Aber mach mir ruhig heute Abend eine Liste.«
In vertrautem Schweigen gingen sie weiter die High Street entlang. Die New-Age-Läden wichen allmählich prosaischeren Geschäften: einem Waschsalon, einem Lebensmittelladen, einer Apotheke und diversen Maklerbüros.
Als sie am oberen Ende anlangten, drehten sie sich um und blickten über die Straße hinweg, die zu ihren Füßen sanft abfiel. »Das Alltägliche und das Erhabene Seite an Seite«, bemerkte Kincaid.
»Du wirst mir fehlen«, sagte Gemma spontan, getrieben von einem Impuls, der sich dem rationalen Denken entzog.
Kincaid legte ihr die Hand auf die Schulter, als sie Seite an Seite die Straße hinunterzugehen begannen. »Glastonbury hat offenbar eine heilsame Wirkung auf dich. Ich muss dich öfter hierhin mitnehmen.«
Jetzt, dachte Gemma. Jetzt bot sich ihr die perfekte Gelegenheit. Nur ein, zwei Sätze, und sie würde alles hinter sich haben.
Aber sie war sich immer noch nicht hundertprozentig sicher, solange sie noch keinen Test gemacht hatte, und sie würde sich unbedingt einen in der Apotheke besorgen, sobald sie wieder in London war.
Sie hatten an diesem Wochenende so gut harmoniert - weit weg von ihren beruflichen und privaten Anforderungen in London, vereint durch die gemeinsame Arbeit an einem Fall, wenn auch inoffiziell. Warum sollte sie den Zauber zerstören?
Zumal, da sie noch eine gemeinsame Nacht vor sich hatten unter dem rosafarbenen Baldachin im Akazienzimmer.
* 15
Die Abtei siechte nicht dahin oder verfiel aus innerer Zerrüttung; sie sank wie ein großes Schiff, in einem Moment noch in voller Fahrt, im nächsten bereits mit Mann und Maus in die Tiefe gerissen... Das ist der Grund, weshalb wir in der Abtei unsere spirituelle Vergangenheit so deutlich spüren, rein und unberührt vom Verfall. Der Geist der Abtei lebt weiter, so wie man auch sagt, dass die Seele eines Menschen weiterlebt, der vor seiner Zeit gewaltsam zu Tode gekommen ist.
Dion Fortune, aus: Glastonbury
Gemma betrachtete den Mann, der ihnen in dem ordentlich aufgeräumten Wohnzimmer gegenübersaß. Gary Wills war dem Aussehen nach Anfang vierzig, von gepflegtem Äußerem, ein leitender Angestellter einer Elektronikfirma in Street. Dazu kamen eine beruflich ebenfalls erfolgreiche Ehefrau, begabte Kinder, ein Haus in bester Vorstadtlage - alles schien den Stempel des Erfolgs zu tragen. Warum nur war diese Familie plötzlich so vollkommen auseinander gebrochen?
Maureen Wills saß neben ihrem Mann, ohne ihn zu berühren. Als sie seine Hand nach ihm ausgestreckt hatte - sei es, um zu trösten oder um getröstet zu werden, das konnte Gemma nicht entscheiden -, war er ihr mit einer unwilligen Bewegung ausgewichen.
»Wir haben doch alles für sie getan«, sagte er. »Die Schulgebühren haben wir bezahlt, die Sportstunden, den Gesangsunterricht, die Klavierstunden.« Das Klavier stand am anderen Ende des Wohnzimmers, der Deckel war geschlossen. »Wie konnte sie nur so ein undankbares kleines Flittchen sein -«
»Gary, bitte!«, ermahnte ihn seine Frau mit einem ostentativen Blick auf die kleineren Kinder, die mit verängstigten Gesichtern um die Ecke lugten.
»Ihr beiden da!« Wills zeigte mit dem Finger auf sie. »Ab in eure Zimmer, aber sofort!«
Der Junge und das Mädchen verschwanden, aber Gemma vermutete, dass sie in der Nähe blieben.
»Sie hätte die Wahl zwischen den besten Universitäten gehabt«, fuhr ihr Vater fort. »Eine Abtreibung wäre die vernünftigste Lösung gewesen - aber nein, sie wollte ja nichts davon wissen. Also habe ich ihr gesagt, der Junge und seine Eltern müssten ihren Teil übernehmen - warum sollten wir die ganze Verantwortung für den kleinen Bastard tragen? Aber sie wollte uns nicht sagen, wer es war!«
»Und deshalb haben Sie ihr nahe gelegt, auszuziehen?«, fragte Kincaid, als ob das ein ganz und gar vernünftiges Vorgehen sei.
»Ich wollte nur, dass sie zur Vernunft kommt. Ich hätte nie gedacht, dass sie tatsächlich gehen würde...«
»Das hättest du aber besser getan«, sagte seine Frau, als habe die Gegenwart der
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