07 Von fremder Hand
hätte.«
Ach du lieber Gott, dachte Winnie. »Die Leute sagen oft im Zorn Dinge, die sie nicht so meinen. Ich bin mir sicher, dass deine Eltern die letzten Monate damit verbracht haben, jedes einzelne Wort zu bedauern, und dass sie schon ganz krank sind vor Sorge um dich.«
»Ich kann nicht nach Hause zurück. Nicht nach dieser Geschichte. Sie kennen meinen Vater nicht. Und mein Platz ist jetzt bei Garnet.«
Winnie glaubte das Schimmern von Tränen in Faiths Augen gesehen zu haben, aber die Lippen des Mädchens waren in einem Ausdruck sturer Entschlossenheit zusammengepresst. Sie wollte nicht zu viel riskieren, aber vielleicht würde sie wenigstens die Friedensverhandlungen in Gang bringen können. »Würdest du mir erlauben, mit ihnen zu reden?«
Faith begann den Kopf zu schütteln, noch bevor Winnie ihre Frage ganz ausgesprochen hatte.
»Ich würde ihnen nicht verraten, wo du bist«, fuhr Winnie fort. »Ich würde ihnen gar nichts sagen, ohne dass du damit einverstanden bist - nur, dass es dir gut geht.« Sie sah, dass Faith schwankte, und fügte mit einem Grinsen hinzu: »Du kannst dich darauf verlassen, dass ich halte, was ich verspreche - das steht in meiner Tätigkeitsbeschreibung.« Zur Belohnung bekam sie ein zögerndes Lächeln.
»Könnten Sie - könnten Sie meiner Schwester und meinem Bruder sagen, dass ich sie vermisse? Und meiner Mutter auch?«
»Natürlich. Gib mir die Adresse, und ich fahre zu ihnen, sobald es irgendwie geht.« Winnie sah sich um und bemerkte, dass die Cafeteria fast leer war. »Wir sollten gehen, sonst verpassen wir noch die Messe.«
Sie kehrten zum Eingangsbereich zurück und gingen von dort die linke Seite des Längsschiffs entlang bis zu der Stelle, wo ein Seil den Zugang zum Chorraum bis zum Beginn des Gottesdienstes versperrte. Eine beträchtliche Anzahl von Menschen warteten dort bereits, und bald schon öffnete der Küster die Absperrung und ließ sie auf den Bänken Platz nehmen.
An diesem Abend sang ein Gastchor, da der Chor der Kathedrale Sommerferien hatte, und Winnie las erfreut, dass sie das Magnificat von Bach und anschließend Parrys Songs of Farewell singen würden, zwei ihrer Lieblingsstücke.
Das übliche Geraschel und Geschlurfe der Leute, die in den Bänken aufrückten und ihre Sachen ablegten, brach plötzlich ab, als die Sängerinnen und Sänger des Chors eintraten und ihre Plätze einnahmen.
Umgeben von dem reich verzierten, dunklen Holz der Bänke und eingehüllt in den warmen Schein der Lampen, fühlte sich Winnie von der Welt dort draußen abgeschirmt, eingesponnen in einen Kokon, in dem Zeit und Raum jede Bedeutung verloren. Als die Musik um sie herum anschwoll, wandte sie sich zu der jungen Frau an ihrer Seite um. Faiths Gesichtsausdruck war von solcher Freude, solcher Sehnsucht erfüllt, dass es Winnie fast das Herz brach. In diesem Augenblick wusste sie, dass dieses Kind ein unschuldiges Wesen war, das sie mit allen Waffen, die ihr Amt ihr zur Verfügung stellte, beschützen würde.
Die Chalice Well Gardens lagen in dem sanften Tal zwischen Chalice Hill und dem Tor. Die Gärten stiegen allmählich an, Ebene um Ebene, bis hin zur letzten, einer abgeschlossenen, dicht bewachsenen Laube, die den heiligen Brunnen selbst beherbergte. Das Wasser, welches die Farbe von Blut hatte, sammelte sich in der fünfseitigen Brunnenkammer und floss dann durch ein unterirdisches Rohr in den Löwenkopftümpel hinab, in einem unaufhörlichen Strom von hundertzehntausend Litern pro Tag, bei einer konstanten Temperatur von elf Grad Celsius.
Nick saß auf einer Bank in der Nähe des Brunnens und wartete auf Faith, die versprochen hatte, sich für eine halbe Stunde mit ihm zu treffen, bevor sie beide zur Arbeit mussten. Er betrachtete die kunstvoll gearbeitete schmiedeeiserne Abdeckung des Brunnens, die Frederick Bligh Bond kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs entworfen hatte. Seltsam, wie der alte Bond überall auftauchte, sobald man einmal eine Verbindung zu ihm hergestellt hatte.
Die Schmiedearbeit stellte ein altes Symbol dar, die vesicapiscis, zwei ineinander greifende Kreise, die angeblich die gegenseitige Durchdringung der materiellen und der immateriellen Welt repräsentierten, oder dasYin und Yang, wo das Bewusste und das Unbewusste sich treffen.
Es sollte auch die Verschmelzung von männlicher und weiblicher Energie symbolisieren... vielleicht ein günstiges Vorzeichen für dieses Treffen, doch
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