070 - Der Galgenbaum im Jenseits
Zauberkräfte dann im Handumdrehen wieder einstellen würden. Der dürre Zauberer mit dem dünnen Hals und dem struppigen Bart sah jetzt nicht mehr zerbrechlich aus. Er wirkte zäh und ritt genauso schnell wie Mr. Silver und ich.
Er hatte seinen Tiefpunkt überwunden. Die Aussicht darauf, bald seinen Sohn in die Arme schließen zu können, verlieh ihm zusätzliche Kräfte.
Die Krallen des Shanggin kratzten über den steinigen Boden. Ab und zu glitten die Hufe unserer Pferde ab.
Cinto drosselte das Tempo ein wenig, und kurze Zeit später sahen wir nicht nur das Meer, sondern auch die Toteninsel. Wie ein Kegel ragte sie aus dem Wasser.
Ein Thron der Gefahr. Ein Mahnmal des Grauens.
»Das verbotene Eiland«, sagte Parthos, nachdem er sein Pferd angehalten hatte. »Es darf nur von Priestern und Magiern betreten werden.«
»Aber auch sie dürfen die heilige Insel nur zu bestimmten Zeiten aufsuchen«, sagte Cinto.
»Ja, und zwar dann, wenn Yamma schläft«, betätigte Parthos.
»Yamma?« fragte ich.
»Der lebende Felsen«, erklärte Cinto, der Vernichter. »Er soll sehr groß und sehr stark sein.«
»Wie kann ein Felsen leben?« fragte ich.
»Magie«, sagte Parthos nur, doch diese Antwort reichte mir. »Sastra scheint den besten Zeitpunkt abgewartet zu haben, um die Toteninsel gefahrlos betreten und verlassen zu können.«
»Wann schläft Yamma denn?« wollte ich wissen. »Doch vermutlich nicht jede Nacht.«
»Einmal im Jahr schläft er«, sagte Parthos. »Sieben Tage lang.«
»Mit so wenig Schlaf würde ich nicht auskommen«, brummte ich.
»Du bist auch kein lebender Felsen«, sagte Mr. Silver.
»Sehr scharf beobachtet«, konterte ich.
Vor uns fiel eine Felswand steil ab. Da hinunterzugelangen hätte eine bergsteigerische Höchstleistung erfordert. Und für die Pferde und den Shanggin wäre es überhaupt undenkbar gewesen, das Meer zu erreichen.
»Jetzt müßte Parthos unseren Pferden Flügel zaubern können«, sagte ich. »Dann könnten wir gleich von hier aus zur verbotenen Insel hinüberfliegen.«
»Es gibt einen Weg, der zum Fuß der Klippen hinunterführt«, sagte der Prä-Welt-Ritter. »Aber seht euch vor. Dies ist das Gebiet der Engawas.«
»Ist das etwas Unanständiges?« wollte Mr. Silver wissen.
»Es ist ein gefährlicher Stamm. Sie sind Kopfjäger«, erklärte der Vernichter.
»Also tatsächlich etwas Unanständiges«, sagte Mr. Silver.
Wir legten den Weg zu Fuß zurück, die Pferde führten wir an den Zügeln. Bald war der Weg überdacht von riesigen Urwaldbäumen, die zwar Schatten spendeten, deren Schatten aber schwül und stickig war.
Die unterschiedlichsten Gerüche wehten uns an. Mal war es mir, als würde es nach Rauch riechen, dann wiederum duftete es herrlich nach Rosen.
Kopfjäger, dachte ich, und mich schauderte. Das hatte uns gerade noch gefehlt.
Ich hoffte, daß die Engawas keine Notiz von uns nahmen. Wir wollten uns nicht auch noch mit ihnen herumschlagen.
Cinto war ein hervorragender Führer. Ich verließ mich schon blind auf ihn. Dieses Vertrauen hatte ich ihm zu Beginn unserer Bekanntschaft nicht entgegengebracht.
»Warum wird das verbotene Eiland auch die heilige Insel genannt?« wollte ich wissen.
Parthos sagte es mir: »Die Engawas verehren Yamma. Der lebende Felsen ist ein Gott für sie. Sie glauben, daß er sie beschützt. Wenn ein Engawa stirbt, denkt er eins zu werden mit Yamma. Seine Seele fliegt dann zur Insel hinüber und wird von Yamma aufgesogen.«
»Kann Yamma die Insel verlassen?«
»Nein, dazu ist er nicht imstande. Er ist schließlich ein Felsen. Es gibt auch für ihn gewisse Gesetze, die er nicht durchbrechen kann.«
»Wir sind weder Priester noch Magier, werden die heilige Insel aber dennoch betreten«, tönte Mr. Silver. »Und Yamma soll sich hüten, uns anzugreifen.«
»Er wird es tun«, sagte Parthos überzeugt. »Er greift jeden an, der es wagt, auf seine Insel zu kommen.«
»Mit anderen Worten, wir können uns auf einiges gefaßt machen«, sagte ich.
»In der Höhle, die wir aufsuchen müssen«, erzählte Parthos weiter, »lebt zudem ein gefährliches Ungeheuer.«
Ich schielte in Mr. Silvers Richtung. »Dann weiß ich schon, wem wir den Vortritt lassen.«
»Aha«, maulte der Ex-Dämon. »Ich darf mich mal wieder unbeliebt machen.«
»Ich glaube nicht, daß dir das sonderlich schwerfällt«, versetzte ich grinsend.
»Vielen Dank, lieber Freund«, gab Mr. Silver zurück.
Wir merkten kaum, daß der Weg in den Dschungel auslief. Cinto
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