0700 - Assungas Zaubermantel
Spiegel. Er war der Person, der das Gesicht gehörte, auch nie in seinem Leben begegnet, und dennoch kam es ihm jetzt bekannt vor.
Woher?
Aus Büchern, aus alten Schriften. Vielleicht auch aus Urkunden, die er im Zusammenhang mit der Schattenkirche gesehen hatte. Auf einmal war er sich sicher.
So mußte es einfach sein.
Das Gesicht der Frau, nein, nicht der Frau. Sie war es nicht. Sie war etwas anderes, etwas viel Größeres. Sie konnte jung und gleichzeitig auch alt sein.
Sie war da, sie war ohne Alter, aber sie war unwahrscheinlich mächtig, und sie hatte einen Namen, vor dem viele Menschen zitterten, wenn er auch nur geflüstert wurde. Lilith!
***
Etwas drückte in seinen Magen, als wollten sich zwei spitze Lanzen durch seinen Körper bohren. Die Erkenntnis, eine der mächtigsten Dämoninnen in der Spiegelfläche zu sehen, trieb ihn beinahe an den Rand des Wahnsinns.
Wenn er mit allem gerechnet und auch alles einkalkuliert hätte, dies jedoch nicht.
Lilith, die Große Mutter, die erste Hure des Himmels, wie sie auch genannt wurde, und die Person, die dem absolut Bösen als weibliche Ergänzung zur Seite stand.
Sie war von den Mitgliedern der Schattenkirche verehrt worden, auf sie war diese Institution aufgebaut worden, die Mitglieder hatten Vertrauen in sie gesetzt, und nun passierte so etwas.
Er sah ihr Gesicht, das so wandelbar war, und er wußte, daß sie erschienen war, um ihn zu bestrafen.
Da brauchte sie ihm nichts zu sagen, er las es einfach ab, denn Lilith mußte es auch gewesen sein, die das Wasser in Säure verwandelt hatte, die Kraft dazu besaß sie allemal.
Er hob mit einer matten Geste seine rechte Hand an, um ihr zu zeigen, was mit ihm geschehen war, doch diese Person kümmerte sich nicht um derartige Kleinigkeiten.
Ihr Gesicht blieb, und was sich in der unteren Hälfte als Mund abzeichnete und kaum mehr war als eine graue Blase, die aus zwei Hälften mit einem Zwischenraum bestand, bewegte sich.
»Du hast es getan«, sagte sie ihm. »Du hast nicht nur die Schattenkirche verraten, sondern auch mich!«
»Nein…!!!«
Ein Wort, ein Schrei. Kyle wußte selbst nicht, woher er den Mut zu dieser Reaktion genommen hatte. Da mußte sich sein Unterbewußtsein gegen ihn gestemmt haben. Er hatte dieses eine Wort herausgeschrien und hörte es als Echo über die kahlen Wände zittern. Und er war fest davon überzeugt, die Wahrheit gesagt zu haben. Ihn traf keine Schuld. Er hatte getan, was die Kirche und damit auch Lilith verlangten, denn Assunga, die alte Hexe, war erweckt worden.
»Ich dulde keinen Widerspruch! Ich bin es, die bestimmt. Nicht die Menschen!«
»Aber ich…«
»Es gibt kein Aber mehr für dich. Du hast versagt, du hast die Schattenkirche verraten, und du wirst dafür bezahlen. Stück für Stück wirst du mit deinem Körper bezahlen. Du wirst ihn hergeben, und du wirst irgendwann darum betteln, endgültig sterben zu dürfen.«
Jedes einzelne Wort traf Kyle wie ein Hammerschlag, und er schien auf seinem Sitzplatz immer mehr zusammenzusinken. Er verstand die Reaktion nicht, sie wollte nicht in seinen Kopf, denn er fühlte sich unschuldig, er hatte alles getan, alles…
Deshalb hob er die Schultern. Es war eine müde, verzweifelte Geste, die ausdrückte, was er dachte. Worte fand er nicht mehr. Er hätte auch sagen können, was er wollte, die Person im Spiegel hätte ihm kein Wort geglaubt.
Trotzdem brannte ihm eine Frage auf den Lippen, die er auch stellte. »Wieso habe ich versagt?« keuchte er. »Ich kann es mir nicht vorstellen. Ich habe doch alles getan.«
»Nein, das hast du nicht!«
Er schaute hoch. In seinen Augen lag ein Flehen, das Gefühl des Schmerzes war daraus verschwunden. »Kannst du es mir denn erklären?« sprach er das Gesicht im Spiegel an.
»Ja, das kann ich!«
Kyle empfand plötzlich. Erleichterung. Wenn Lilith ihm seine Fehler vorhielt, dann würde er versuchen, sie in der Zukunft nicht mehr zu begehen und sich einzig und allein auf die Sache zu konzentrieren. Vielleicht konnte er etwas gutmachen.
»Dann sag es…«
»Du hast den Begriff der Schattenkirche nicht richtig verstanden«, sagte die Person. »Es ist eine Vereinigung gewesen, die im Schatten steht. Sie hätte nicht an die Öffentlichkeit treten sollen, aber es wurde ein Buch darüber geschrieben. Das war der Anfang vom Ende. Ich habe den Text auf meine Weise löschen können, doch die Saat war längst gelegt. Fast wäre es nicht gelungen, Assunga zu wecken, denn auf deiner Spur befanden
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