0702 - Das Stummhaus
den Gewohnheiten der Aphiliker an. „Leider habe ich keine Frau, aber ich brauche auch keine. Mein Gehalt gehört mir ganz allein."
„Ich denke genauso, aber auf die Dauer kommen die Freudenhäuser zu teuer, wesentlich teurer als eine eigene Frau.
Besonders teuer aber wird es dann, wenn man sich die Mädchen ins Haus kommen läßt."
„Das allerdings ist ein Luxus. Aber ich gehe gern spazieren."
Überraschend fügte er hinzu: „Haben Sie noch einen Vater?"
Der andere war einen Augenblick lang verwirrt, dann zuckte er die Schultern.
„Ich weiß nicht - aber vielleicht lebt er noch. Oder sie haben ihn ins Stummhaus gebracht. Ich habe ihn seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen und nie Kontakt mit ihm gehabt."
„Und Ihre Mutter?"
„Sie ist schon lange tot - zum Glück. Sie war eine Last für mich, denn sie hatte die Erinnerung an die alten Zeiten noch nicht vergessen und sprach ständig davon. Ich bin froh, daß ich sie los bin."
Vester erschrak innerlich über die Gefühlskälte des anderen.
Um die richtigen Fragen stellen zu können, mußte er jedoch in die gleiche Kerbe hauen.
„Mein Vater ist im Stummhaus, da ist er gut aufgehoben.
Trotzdem möchte ich manchmal wissen, ob er noch lebt und was er dort tut. Man hört ja nichts darüber..
„Eine ganze Menge hört man. Schließlich interessiert es mich, weil ich ja selbst eines Tages das Stummhaus betreten muß.
Man will doch wissen, was dann geschieht."
„Ich habe mich noch nie darum gekümmert, und es ist mir auch egal."
Der Fremde lächelte kalt.
„Sie haben ja auch noch Zeit, nicht wahr? Meiner Meinung nach geht es den Alten im Stummhaus recht gut, vielleicht zu gut. Man läßt sie nur deshalb nicht mehr heraus, weil ihr Geschwätz die jüngeren Menschen beeinflussen könnte."
„Das wäre zumindest ein plausibler Grund."
„Es gibt auch andere Gerüchte, aber von denen werden Sie schon gehört haben. Ich halte sie für baren Unsinn. Kein Mensch denkt daran, die Alten umzubringen. Lebendig bringen sie mehr Nutzen."
„Welchen Nutzen sollten sie denn bringen?" erkundigte sich Vester beiläufig. „Meiner Meinung nach sind sie unnütze Esser."
Er sagte es so kalt und gefühllos, daß er sich vor sich selbst schämte. Aber der andere nickte zustimmend.
„Ganz meiner Meinung, aber wer kennt schon die Absichten der Regierung? Die wird schon ihre Gründe haben, einen Schleier der Ungewißheit über die Stummhäuser zu legen. Vielleicht gibt es sie auch nur so lange, bis die alte Generation mit ihren Erinnerungen ausgestorben ist. Im übrigen kann mir das alles ziemlich egal sein. Ich bin noch jung und habe Zeit, es geht mir gut und ich habe einen einflußreichen Posten in meiner Firma.
Was will ich mehr?"
Liebe! hätte Vester am liebsten gesagt, aber er nickte nur und hielt den Mund.
Der Fremde blieb noch eine Weile sitzen, dann grüßte er kurz und ging.
Vester sah noch, wie er zwei alte Männer brutal zur Seite stieß, die auf dem Parkweg standen und miteinander plauderten. Der eine verlor den Halt und fiel hin. Der Fremde drehte sich nicht einmal um, und selbst der Gesprächspartner des Alten blieb tatenlos stehen und wartete, bis sich der Gestürzte allein erhoben hatte.
Dann setzten sie ihr Gespräch fort, als sei nichts geschehen.
Vester brach dann ebenfalls auf und verließ den Park.
Er verspürte Hunger und entdeckte ganz in der Nähe des Hotels ein Restaurant, in dem er gut essen konnte. Beim Heimweg machte er einen Abstecher zum Stummhaus Nr. 23, aber da rührte sich nichts. Endlich gelangte er ins Hotel und fand Hart im Badezimmer.
„Nun, ausgeschlafen?"
„Wie man es nimmt", meinte Hart und streifte das Hemd über.
„Du wirst es nicht glauben, aber ich hatte Besuch."
Vester setzte sich aufs Bett.
„Besuch? Von wem?"
„Von der hübschen Dame nebenan. Sie kam herein und bot sich mir an, ohne viel Worte."
„Und du?"
„Sie verspürte ein sexuelles Verlangen, und ich war nicht abgeneigt. Sie muß die Frau eines Geschäftsmanns sein."
„Eine verrückte Welt!"
„Das gab es früher auch schon, aber meist betrogen die Menschen aus Liebe, aus Zuneigung zu einem anderen. Aber lassen wir das. Jedenfalls habe ich einiges in Erfahrung bringen können."
„Was hast du erfahren können?" fragte Vester ungeduldig.
„Ihre Eltern kamen vor einigen Tagen ins Stummhaus. Es hat sie zwar nicht berührt, aber mir war sofort, als hätte sie mit ihnen bis zuletzt noch Kontakt gehabt. Nun sind sie tot - für sie
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