0702 - Das Stummhaus
nächstgelegenen Wärmekapsel einfinden, damit man ihr das Kind abnahm.
Es war ohnehin ungewöhnlich, daß jemand sein Kind noch voll austrug, aber es war nicht verboten. Die meisten Mütter ließen es sich vorzeitig wegnehmen, um die späteren Unbequemlichkeiten einer natürlichen Geburt zu umgehen.
Nein!
Jasmin wußte plötzlich, daß sie der Aufforderung nicht Folge leisten würde. Sie würde nicht gehen und sich ihr Kind nehmen lassen. Sie wollte es behalten, denn sie besaß sonst nichts.
Lieber wollte sie sterben, als es für immerzu verlieren.
Aber wohin sollte sie? Sie kannte niemanden, und den Vater des Kindes hatte sie nach dem flüchtigen Abenteuer nie mehr wiedergesehen. Nach Nordosten, zu den Siedlungen? Wurde man sie aufnehmen, sie, eine geflohene Mutter, die ihr Kind nicht abgeben wollte, damit es vom Staat aufgezogen wurde? Jeder, der so etwas tat, machte sich im höchsten Maße strafbar.
Trotzdem wollte sie es versuchen. Gerüchte besagten, daß es genug Flüchtlinge gab, die sich in den Weiten des Landes verbargen. Es gab auch Menschen wie sie, Jasmin, die noch nicht völlig aphil geworden waren. Wenn sie welche traf, war sie gerettet.
Sie packte hastig alles Notwendige zusammen, denn sie durfte keinen Tag länger warten. Das Kind, so hoffte sie, würde sie schon allein zur Welt bringen können. Ihre Zeit als Arzthelferin war zwar schon lange her, aber einiges hatte sie behalten. Und wenn ihr noch jemand dabei half - um so besser.
Jasmin war noch immer eine schöne Frau. Ihre Figur war derart, daß sie im Notfall für kurze Zeit ihren Zustand verbergen konnte. Man würde sie für eine wohlgeformte Vollschlanke halten.
Sie wickelte sich eine dünne Decke um den Leib und zog ein Kleid darüber. Prüfend betrachtete sie sich im Spiegel und rückte hier und da einiges zurecht, bis sie zufrieden war. Dann sah sie aus dem Fenster.
Es war später Nachmittag. Sobald es dunkel war, würde sie gehen. Es würde nicht auffallen, denn sie ging oft abends noch spazieren, und da sie kein Gepäck mitnahm, würde niemand Verdacht schöpfen können - vorausgesetzt überhaupt, es interessierte sich jemand für sie und ihr Tun.
Sie nahm ihre reichliche Tagesration in Empfang, die jeder arbeitende Mensch erhielt, aß sich satt und packte den Rest ein.
Etwas Geld hatte sie auch, um über die ersten Wochen hinwegzukommen.
Der Lift brachte sie nach unten, als es dunkel geworden war.
Die Leute, denen sie begegnete, schenkten ihr keine Beachtung.
Ihr ganzes Leben lang war es ihr schwergefallen, die Nachbarn nicht zu grüßen oder sich nach ihrem Wohnbefinden zu erkundigen, wie sie es noch von ihren Eltern her kannte, die schon lange in einem Stummhaus lebten. Das heißt, sie hoffte, daß sie noch lebten, aber sie wagte es nicht, sich danach zu erkundigen. Ein solches Interesse hätte verraten, daß sie keine vollständige Aphilikerin war.
Die Straßen waren noch ein wenig belebt, aber sie mußte das Viertel der Wohnsilos durchqueren, wenn sie an den Stadtrand gelangen wollte. Das Gehen fiel ihr schwer, und die Schmerzen wurden allmählich unerträglich. Hatte sie sich verschätzt? Ihr war, als setzten die Wehen bereits ein.
Verzweifelt sah sie sich um, aber sie wußte, daß sie niemanden um Hilfe bitten konnte. Die Wände der Häuser waren wie endlose Mauern, die sich im Abendhimmel verloren.
Sie strahlten eine Kälte aus, die Jasmin schaudern ließ.
Die Häuser waren genauso lieblos wie die Menschen, die in ihnen lebten.
Sie schwankte weiter, immer nach Norden. Die Wohnsilos waren zu Ende, die Häuser wurden niedriger. Nur noch einige Blocks, und sie erreichte die Ausfallstraße. Mit den Händen stützte sie sich von der grauen Mauer ab, an der sie entlangging.
Erst als sie das stählerne Tor passierte, kam ihr zu Bewußtsein, wo sie sich befand.
Ein Stummhaus!
Vielleicht das Stummhaus, in das man ihre Eltern - damals gebracht hatte ?
Ihr blieb keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Sie mußte weiter, wenn sie nicht hier in der Stadt zusammenbrechen wollte.
Draußen, wo weniger Menschen lebten, konnte sie sich ausschlafen. Dann würden auch die Wehen nachlassen.
Sie wußte jetzt, daß es die Wehen waren. Die Geburt stand kurz bevor.
Als die Schmerzen immer unerträglicher wurden, blieb sie stehen. Drüben auf der anderen Straßenseite standen zwei Männer und beobachteten sie neugierig. Der eine war jung, der andere schon alt.
Sie winkte ihnen mit letzter Kraft zu.
„Helft mir!" hauchte sie
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