0709 - Das Seelenschwert
wo steckte sie?
Weg, verschwunden. So lautlos, wie sie aufgetaucht war, hatte sie sich wieder zurückgezogen.
Sadre stand da und bekam seinen Atem nur mit Mühe unter Kontrolle.
So etwas hatte er noch nie erlebt, das war für ihn furchtbar, völlig neu und jenseits all seines Wissens.
Er blickte in den nachtdunklen Garten. Wollte wenigstens die Bewegung eines Fremden suchen, um sich seinem Chef erklären zu können, denn der mußte ihm das alles glauben, aber er sah nichts.
Der Garten lag in völliger Stille. Nur das sanfte Rauschen der Blätter strich durch die Lüfte.
Er atmete scharf aus. Es war etwas schiefgelaufen, er hatte Fehler begangen, alle hatten sie Fehler gemacht, und wahrscheinlich hatten sie etwas übersehen.
Aber was?
Hing das Auftauchen des Fremden mit der Entführung Tommy Lis zusammen?
Oder hatte diese Mischung aus Geist, Mensch und Dämon vielleicht einen anderen Auftrag gehabt? War er eingedrungen, um den Chef des Hauses zu töten?
Sadre dachte mit Schrecken daran. Sollte das geschehen sein, dann hatte er versagt.
Plötzlich dachte er nicht mehr an sich, sondern nur noch an Li Choung.
Auf dem schnellsten Weg huschte er dorthin, wo der alte Mann seinen Platz auf der Bank gefunden hatte.
Er sah ihn schon aus einiger Entfernung. Wie ein zusammengesunkenes Stückchen Elend hockte er auf der Bank, den Kopf nach vorn gedrückt, den Oberkörper ebenfalls, so daß es nur eine Frage der Zeit war, wann er von der Bank nach vorn kippen würde.
Auf den letzten Yards war Sadre langsamer gelaufen, eine reine Vorsichtsmaßnahme, obgleich es ihn drängte, sich mit seinem Chef zu beschäftigen, denn er wollte schließlich Gewißheit haben, ob der Mann noch lebte oder nicht.
Sadre schlug einen Bogen. Er schaute auch in die Höhe, wo sich das Geäst und die Krone des hohen Baumes abmalten, unter dem die Bank stand. Für einen geübten Kämpfer war es leicht, dort hochzuklettern und sich darin zu verbergen.
Es war nichts zu sehen.
Sadre holte trotzdem eine schmale Lampe hervor und schickte den Strahl gegen den Wirrwarr über seinem Kopf. Vielleicht traf er ein Gesicht, eine Gestalt, möglicherweise schimmerte bleiche Haut, aber nichts Fremdes hielt sich im Geäst verborgen.
Er steckte die Lampe wieder weg. Sekunden später stand er dicht an der Bank.
Li Choung rührte sich nicht. Seine Haltung war so unnatürlich, daß Sadre Schlimmes befürchtete.
Er berührte ihn vorsichtig, wollte den Kopf des alten Mannes anheben und zurückdrücken, als er den leichten Widerstand spürte und auch das leise Stöhnen hörte.
Der Meister lebte.
Sadre atmete auf. Er umfaßte die Schultern des Alten und drückte den mageren Körper zurück, bis dessen Rücken am Holzgitter der Bank anlehnte. So konnte er sitzenbleiben.
Erst jetzt sah Sadre, daß Li Choung ebenfalls Besuch bekommen hatte.
Dieser Mensch-Dämon war schneller gewesen als Sadre und hatte seine Zeichen hinterlassen.
Li Choung blutete aus zwei Wunden an den Wangen. Sie sahen aus wie lange Schrammen, die eine kleine Säge in die Haut hineingefräst hatte.
Li Choung bewegte die Augenlider, und Sadre holte tief Luft, bevor er sich mit leiser Stimme zu erkennen gab.
»Ich bin es, Meister. Ich, dein Beschützer…«
Li Choung öffnete die Augen. Die Pupillen waren ohne Glanz. Der Ausdruck deutete darauf hin, daß der alte Mann irgendwie abwesend war und wohl Mühe haben würde, sich wieder zurechtzufinden und sich auch zu erinnern.
Er hob seinen rechten Arm. Die Finger umklammerten Sadres Handgelenk. Sie fühlten sich an wie Stäbe, die in feuchtes Papier eingewickelt worden waren.
»Bitte, Meister…«
Li Choung ließ Sadre nicht los, als er nickte. Dann bemühte er sich um eine Erklärung. Er sprach sehr langsam und sehr leise. »Ich bin hier nicht mehr sicher, mein Freund. Er war hier, ja, er ist hier bei mir gewesen. Ich kann es dir nicht erklären, aber er tauchte plötzlich auf und zeichnete mich. Er erklärte mir, daß nun alles beginnen würde und…«
»Du darfst nicht reden, du mußt dich ausruhen.«
»Das weiß ich. Aber ich will reden. Ich habe festgestellt, daß nicht alles so ist, wie ich es gern hätte. Ich bin deshalb zu dem Entschluß gekommen, daß es Mächte gibt, die uns über sind. Es ist nicht alles vorbei, Sadre. Tommy Li wurde gefunden, das ist sicher, aber es gibt ein Erbe, und ich will, daß er nicht mehr in dieses Haus zurückkehrt. Dafür werden wir beide sorgen müssen.«
»Aber wie?«
»Ich weiß es noch nicht,
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