0711 - Die Nacht der Wölfe
haben?«
Jorge blieb stehen. »Was soll das heißen? Willst du ihn umbringen?«
Chang neigte den Kopf. »Du denkst noch immer wie ein Vampir, nicht wie ein Tulis-Yon. Natürlich will ich ihn umbringen, aber nicht mein Wille steht im Vordergrund, sondern der unseres Herrn.«
In den Gesichtern der anderen sah Jorge das gleiche Unverständnis, das auch er empfand. Es war offensichtlich, dass Chang von ihnen eine Schlussfolgerung erwartete, aber er hatte nicht die geringste Ahnung, wie die aussehen sollte.
»Wie können wir dem Willen unseres Herrn folgen, wenn er nicht weiß, in welcher Situation wir sind?«, stellte Adam die Frage, die sie alle bewegte. »Er ahnt doch nicht, dass wir einem Feind gegenüberstehen.«
»Glaubst du das wirklich?«, fragte Chang zurück. »Wie lautet der Befehl, den er uns gegeben hat?«
»Wir sollen neue Tulis-Yon erschaffen und dabei unauffällig bleiben.«
»Und trotzdem schickt er fünf von uns, wo ein oder zwei Krieger ausgereicht hätten? Erscheint dir das nicht seltsam?«
Jorge stutzte. Er hatte vorher nicht darüber nachgedacht, weshalb so viele Tulis-Yon auf diese Reise geschickt worden waren, aber jetzt, wo Chang die Frage stellte, wurde ihm klar, wie merkwürdig das war. Agkar trennte sich doch nicht ohne guten Grund von fast einem Viertel seiner Streitmacht.
»Versteht ihr, was ich meine?«, hakte Chang nach.
Jorge nickte langsam. »Du hältst diese Mission für einen Test.«
»Richtig. Ich glaube, dass Agkar herausfinden will, ob wir bereits weit genug ausgebildet wurden, um eigene Entscheidungen zu treffen, oder ob wir immer noch nur stur Befehle ausführen.«
»Wir sind Krieger«, warf Adam ein. »Es ist unsere Aufgabe, Befehle zu befolgen.«
Chang drehte sich zu ihm um. Er schien den Einwand vorhergesehen zu haben, denn seine Antwort kam ohne Zögern: »Schon bald werden wir andere Krieger anführen. Dann wird es unsere Aufgabe sein, Befehle zu geben. Willst du versagen, wenn es soweit ist?«
Adam duckte sich unter den Worten. »Nein, das will ich nicht.«
Jorge war überrascht über Changs plötzliche Autorität. Er selbst wäre nie auf die Idee gekommen, die Befehle, die sie erhalten hatten, zu hinterfragen. Vielleicht, dachte er mit einem gewissen Neid, war genau das der Grund, weshalb Agkar ihm das Kommando der Mission vorenthalten hatte.
Einige Minuten schwieg Chang, dann stand er auf und befahl seine Untergebenen mit einer knappen Geste zum Rand des Canyons. In einiger Entfernung war die Stadt zu sehen, die ihre länger werdenden Schatten auf die Prärie warf.
»Unser Befehl lautet, unauffällig zu bleiben«, sagte Chang, »aber wie wir ihn ausführen, ist unsere Sache. Dort unten gibt es einen Zeugen und einen Feind. Beide müssen sterben.«
»So ist es«, stimmte Jorge zu.
»Dann hört meinen Befehl. Ich will, dass ihr ausschwärmt, jeder in eine andere Richtung. Findet die Ranches, die Farmen, die Hütten der Goldsucher. Tut, wozu ihr geschaffen wurdet. Dann vernichtet die Telefonverbindungen und die Stromleitungen, blockiert die Straße.«
Er sah die anderen nacheinander an. Sein Blick war fest und entschlossen.
»Wir holen uns die ganze Stadt.«
Jorge atmete nervös durch. Er hatte geahnt, dass es darauf hinauslaufen würde, doch jetzt, wo Chang es ausgesprochen hatte, konnte er nur noch an das Schild am Ortseingang von Dusty Heaven denken.
Einhundertsiebzehn Menschen.
»Möge Kuang-shi mit uns sein«, flüsterte er.
***
Last Chance, Colorado
Es war dunkel in dem alten Haus. Die Vorhänge waren zugezogen und ließen nicht zu, dass das Licht der Abendsonne in die Räume eindrang und sie erhellte. Die meisten Bewohner schliefen noch, träumten von langen Flügen durch eine sternklare Nacht.
Fu Long, der Vampir, saß am Schreibtisch seines Arbeitszimmers und betrachtete konzentriert einige Schriftrollen, die er vor sich ausgebreitet hatte. Manche der Zeichen waren so ausgeblichen, dass sie selbst im Licht der starken Lampe kaum zu erkennen waren.
»Tsui Ra…«, murmelte er. »Nein, Tsa…«
Ein Geräusch ließ ihn aufsehen. Die Tür zum Arbeitszimmer hatte sich geöffnet. Seine Gefährtin Jin Mei stand im Rahmen und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.
»Deine Familie sorgt sich um dich«, sagte sie. »Seit wir in dieses Haus gezogen sind, sitzt du nur noch hier oben und verschließt dich vor uns. Wir schlafen allein und jagen allein. Du weißt, dass das nicht richtig ist.«
Fu Long schob die Schriftrollen zur Seite und lehnte sich
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