0711 - Die Nacht der Wölfe
die Lefzen und brachte den Geschmack des Blutes zurück. Er hatte bereits gemordet an diesem Abend, hatte fünf Menschen vor dem Fernseher überrascht und ihnen das Geschenk der Tulis-Yon gebracht.
Sie waren jetzt irgendwo dort draußen, handelten nach dem Befehl, den er ihren sterbenden Körpern zugeflüstert hatte.
Chang hatte keinen Zweifel an ihrem Gehorsam, machte sich nur Sorgen über die Fähigkeiten der frisch Veränderten. Er und die anderen wurden seit zwei Monaten von Agkar ausgebildet, aber es gab viele Aspekte ihres Daseins, die sie noch nicht verstanden. War es da nicht zuviel verlangt, die neuen Tulis-Yon direkt in den Kampf zu schicken?
Dies war die einzige Schwachstelle seines Plans, aber er versuchte sie durch umso präzisere Befehle auszugleichen. So lange jeder genau wusste, was er zu tun hatte, konnte diese Nacht eigentlich nur mit seinem Triumph enden.
Und daran wird auch ein Mensch namens Zamorra nichts ändern, dachte er.
Chang erreichte die Straße und ging auf einen der großen Strommasten zu. Er spürte, dass die Zeit, um mit Phase zwei seines Planes zu beginnen, noch nicht gekommen war. Zu wenige hatten die Veränderung bereits vollzogen. Noch eine Stunde, vielleicht auch weniger.
Er dachte an das Signal, das er mit den anderen verabredet hatte. Wenn die Lichter in der Stadt ausgingen, war es soweit.
Dann begann die Einkesselung der Stadt.
***
Zamorra griff nach Nicoles Hand und half ihr aus dem Graben.
»Wie weit ist es bis zur Stadt?«, fragte er.
Yellowfeather hob die Schultern. »Fünf oder sechs Meilen. Es gibt allerdings eine Farm, die knapp zwei Meilen entfernt ist. Dort können wir uns einen Wagen leihen.«
Er wartete die Antwort nicht ab, sondern drehte sich um und ging los. Eine Weile herrschte Schweigen. Selbst die Rinder waren in der sternklaren Nacht nicht mehr zu sehen. Sie schienen sich wohl auf einen weniger hektischen Teil der Weidegründe zurückgezogen zu haben.
Zamorra beobachtete aufmerksam seine Umgebung, aber der Tulis-Yon hatte die Verfolgung anscheinend aufgegeben. Er fragte sich, warum.
»Das war doch kein Mensch«, sagte Yellowfeather schließlich. »Niemand ist so stark.«
»Nein«, antwortete Nicole. »Das war ein Tulis-Yon.«
»Diese Sekte?«
»In gewisser-Weise schon, allerdings haben wir ein paar Dinge darüber verschwiegen, weil wir dachten, Sie würden uns nicht glauben.«
»Was zum Beispiel?« Yellowfeather klang nicht misstrauisch, nur besorgt.
Nicole seufzte. »Nun, zum Beispiel, dass sie keine Wolfsmasken tragen, sondern Wolfsköpfe , und dass sie dämonische Kreaturen sind, die mit normalen Waffen nicht zu töten sind.«
»Vielleicht«, sagte Zamorra, als er den Blick des Sheriffs sah, »sollten wir ganz von vorne anfangen.«
Und das taten sie auch. Behutsam erklärten sie Yellowfeather, dass es noch eine andere Welt gab als die, in der er bisher gelebt hatte, eine Welt, in der Naturgesetze durch eine einfache Handbewegung aufgehoben wurden und Dämonen um die Weltherrschaft rangen. All das geschah im Verborgenen, und wenn tatsächlich ein Fall an die Öffentlichkeit kam, dann nur in Boulevardzeitungen, denen ohnehin niemand glaubte. Das, so schloss Nicole, war auch gut so, denn eine Welt, in der jeder Trottel versuchte, sein Leben mit Magie angenehmer zu gestalten, war kaum erstrebenswert.
»Vor einer Stunde hätte ich Sie ausgelacht«, sagte Yellowfeather.
Zamorra nickte. »Ich weiß.«
Schweigend gingen sie weiter. Der Sheriff hing seinen Gedanken nach und schien Zeit zu brauchen, die Informationen zu verarbeiten. Zamorra konnte das gut verstehen. Für ihn musste diese Erkenntnis so umwerfend sein, als sei ihm gerade bewiesen worden, dass die Erde doch eine Scheibe war.
»Was ist das für ein Licht?«, fragte Nicole plötzlich.
Zamorra sah auf. Vor ihnen lag ein kleiner Hügel, hinter dem der Nachthimmel orange und rot flackerte.
»Da brennt was«, sagte Yellowfeather. Seine Augen weiteten sich. »Scheiße, das ist die Ingles-Farm!«
Er begann zu rennen. Zamorra und Nicole sahen sich kurz an, dann schlossen sie zu ihm auf, obwohl beide wussten, was sie hinter dem Hügel finden würden.
***
Die Nacht machte sie stark. In der Dunkelheit waren sie frei. Ihre Sinne waren geschärft, nahmen den Geruch der Erde, das Licht der längst untergegangenen Sonne und das Pochen menschlicher Herzen wahr.
Wir sind Tulis-Yon, dachten die Verwandelten, während sie ihre zerfetzte Kleidung abstreiften und nackt die Häuser verließen.
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