0711 - Die Nacht der Wölfe
hier vielleicht der Grund für den Überfall? Gab es einen neidischen Konkurrenten, der seinen Hass an den McDermonds ausgetobt hatte? Es klang unwahrscheinlich, war aber nicht völlig unmöglich.
»Ich seh mir den Stall an«, sagte er zu Pligh. »Warten Sie hier.«
»Okay.« Der Bankmanager klang nicht gerade begeistert.
Yellowfeather überquerte den Hof und blieb vor der geschlossenen Stalltür stehen. Seine rechte Hand tastete nach einem Taschentuch, die linke nach der Pistole an seiner Hüfte.
Seit acht Jahren arbeitete er bereits als Sheriff von Dusty Heaven, New Mexico und in der ganzen Zeit hatte er seine Waffe kein einziges Mal abgefeuert. Er hoffte, dass das auch heute so bleiben würde, nicht nur, weil er den Verlust von Menschenleben befürchtete, sondern vor allem, weil er nach Aussage seines ehemaligen Chefs der schlechteste Schütze war, der seit Einführung der Sehtests die Polizeiausbildung absolviert hatte.
Waffen lagen Yellowfeather einfach nicht.
Er wickelte sich das Taschentuch um die Hand und griff nach der Tür. Im gleichen Moment flog sie ihm entgegen, traf ihn mitten ins Gesicht.
Er wurde zurückgeschleudert und verlor das Gleichgewicht. Staub wallte auf, als er zu Boden ging. Hinter ihm schrie Pligh, während Yellowfeather nur benommen den Kopf schüttelte.
Die Gestalt tauchte aus dem Staub auf wie eine Erscheinung. Undeutlich sah er einen blutüberströmten Mann, der mit ausgestreckten Armen auf ihn zustürzte. Sein Mund war aufgerissen, aber heraus kamen keine Worte, sondern nur ein animalisches Fauchen. In seinen Augen blitzte es.
Er hatte Yellowfeather beinahe erreicht.
Der zögerte keine Sekunde - und schoss.
Chang erwachte aus seinem langen tiefen Schlaf. Die Erinnerung an die vergangene Nacht war wie ein Traum, verschwommen und irreal. Sie hatten getötet, immer und immer wieder. Zuerst er allein, dann auch die anderen.
Blutrausch. So nannte man den Zustand wohl, in den sie gefallen waren. Er hatte es bereits in der Küche gemerkt, als das Blut gegen die Wände spritzte und der Geruch ihn beinahe überwältigte. Noch nie hatte er so viele auf einmal getötet.
Die anderen waren draußen geblieben, für den Fall, dass eines seiner Opfer ihm entkam. Er hatte sie vor dem Stall getroffen, dort, wo man das entsetzte Wiehern der Pferde hören und ihren Geruch auf der Zunge schmecken konnte.
Jorge war als erster hineingestürmt, dann Danny, Adam und Li. Er hatte sie zurückhalten wollen, versuchte sie an ihre Mission zu erinnern, aber als er die Todesangst der Tiere witterte, vergaß er alle Gedanken. Das Raubtier ihn ihm war erwacht.
Sie hatten sich durch die Pferdeboxen gemetzelt und dann über die Weiden. Chang erinnerte sich mit Erstaunen daran, wie leicht es gewesen war, die Rinder zu töten. Pferde bissen und traten aus, Rinder flohen einfach nur.
Irgendwann, als die Sonne bereits hoch am Himmel stand, waren sie in die Höhle, die sie sich als Versteck ausgesucht hatten, zurückgekehrt und in einen tiefen Schlaf gefallen. Niemand hatte ein Wort gesprochen.
Chang öffnete die Augen und richtete sich auf. Er wusste, dass sie einen Fehler begangen hatten, den ersten seit Beginn ihrer Reise. Vor ihrem Überfall auf die Ranch hatten sie nur auf einsamen Landstraßen gemordet. Am Highway 95 eine junge Tramperin, die sich gern von einem älteren chinesischen Gentleman mitnehmen ließ, an der 191 einen Truckfahrer, der auf einem unbewachten Parkplatz eingeschlafen war, einen Tankwart an der 25 und an der 60 einen Versicherungsvertreter, den Jorge an einer Raststätte aufgelesen und mit der Aussicht auf ein wenig Zweisamkeit in den Wald gelockt hatte.
Sie hatten den Befehl, unauffällig zu bleiben.
Bis zum gestrigen Abend war ihnen das auch gelungen. Chang dachte an den Plan, den er sich vor seinem Gang zur Ranch überlegt hatte. Er wollte die fünf Bewohner töten, warten, bis sie sich veränderten, und dann das Haus anzünden. Es wären keine Spuren des Massakers zurückgeblieben.
So hatten sie im Rausch jedoch einen Ort des Schreckens hinterlassen. Chang kannte die Medien gut genug, um zu wissen, dass die McDermond-Ranch schon bald dem ganzen Land ein Begriff sein würde.
»Verdammt«, sagte Chang leise, während er versuchte, nicht an die Reaktion seines Herrn zu denken. Auf der einen Seite sehnte er sich danach, wieder in dessen Schatten zu knien und die Worte der Weisheit zu vernehmen. Auf der anderen Seite fürchtete er sich vor der Strafe, die ihn für sein Versagen
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