0718 - Das Dorf der Toten
zeichnete eine Idylle, an die sie nicht glaubten.
Keine verdammte Sekunde lang…
***
Der Strom der Zeit schien sich um Elkhart herumzuschlängeln wie ein Fluß um eine Insel. So wie dieses Dorf mussten im 19. Jahrhundert viele jener Ortschaften ausgesehen haben, die von Siedlern gegründet worden waren. Die Häuser waren aus Holz und schlicht, wenn auch nicht schmucklos, die ungepflasterten Straßen von Kutschenrädern zerfurcht.
Ganz offenbar war man hier nicht auf die Dinge angewiesen, die es anderswo gab. Die Menschen von Elkhart waren Selbstversorger im wahrsten Sinne des Wortes. In den Gärten sämtlicher Häuser waren Gemüsebeete angelegt, Zamorra und Nicole kamen an einer Schmiede vorbei, wo gerade ein Pferd beschlagen wurde. Durch ein Fenster sahen sie in eine Schneiderstube, und von irgendwoher wehte ihnen der köstliche Duft frischen Brotes um die Nase.
Der Geruch erinnerte sie daran, dass sie seit dem vorigen Nachmittag nichts mehr gegessen hatten.
»Immer der Nase nach«, schlug Nicole deshalb vor. »Vielleicht haben wir Glück und man kennt die Bedeutung des Wortes Gastfreundschaft wider Erwarten doch…«
»Dein Wort in Merlins Ohr«, brummelte Zamorra im Gleichklang mit seinem Magen.
Während sie dem Duft der Backwaren folgten, kamen sie noch an einer Dreiergruppe von Männern in einfacher Leinenkleidung vorbei, die damit beschäftigt waren, einer neuen Tür für eines der Häuser den letzten Schliff zu geben. Einer nahm die Maße des Türrahmens mit einer Schnur, ein anderer notierte sie mit einem Kohlestift, der dritte arbeitete an der Tür, die auf zwei Sägeböcken lag.
»Lass uns die netten Herren fragen«, meinte Zamorra und trat auf das Trio zu.
»Gentlemen«, Zamorra nickte freundlich, aber nicht zu herzlich in die Runde, »wie Sie sicher wissen, sind wir fremd hier.« Er stellte sich und seine Begleiterin vor. »Wir möchten auch nicht lange stören - so bald wir gefunden haben, wonach wir suchen, werden wir Ihr gastliches Örtlein sofort wieder verlassen.«
Die drei sahen ihn an, als verstünden sie nicht, was er sagte. Dabei sprach er Englisch doch so akzentfrei und fließend wie seine Muttersprache.
Seltsam…
Da sie nichts erwiderten, fuhr er fort:
»Sie fragen sich bestimmt, was wir hier suchen, und ich will auch weder ein Geheimnis daraus machen, noch lange um den heißen Brei herumreden und Ihnen Ihre Zeit stehlen.«
Er zog das Bild von Lance Farnsworth aus der Innentasche seiner Jacke, faltete das A4-Blatt auseinander und hielt es dem Mann hin, der die Tür schliff. Die anderen beiden hatten zwar in ihrem Tun innegehalten, standen aber noch beim Haus, ein paar Schritte entfernt. Jetzt kamen sie heran, neugierigen Hühnern gleich, denen jemand ein paar Körner hingeworfen hatte. Sie gesellten sich zu ihrem Kollegen und studierten gemeinsam den Laserausdruck der Fotografie.
Auf ganz sonderbare Weise, wie Zamorra fand. Als interessiere sie weniger der Mann, der darauf zu sehen war, als vielmehr das Bild als solches.
»Ist dieser Mann vor ein paar Tagen hier gewesen? Haben Sie ihn gesehen, meine Herren?«, fragte Zamorra. Ein merkwürdiges Gefühl hatte sich seiner bemächtigt - nicht Angst, nicht einmal die Ahnung einer aufziehenden Gefahr oder etwas in dieser Art. Nein, es war einfach nur seltsam - das Gefühl spürbarer Unwirklichkeit.
»Ihr sucht nach diesem Mannsbild?«, fragte da der offenkundig Älteste, der die Maßangaben eines der anderen notiert hatte.
Zamorra nickte sprachlos, verdutzt nicht nur darüber, dass der Mann Deutsch sprach, sondern auch…
Nicole zog neben ihm heftig den Atem ein. Natürlich sah auch sie es.
Die Augen dieses Mannes.
Iris wie aus flüssigem Marmor, erinnerte er sich der Assoziation, die er die Nacht zuvor bei der Begegnung mit dem Jungen nahe bei Elkhart gehabt hatte.
So seltsame Augen besaß auch der Mann vor ihm.
»Die Mühe braucht ihr euch nicht zu machen. Hier hats keinen fremden Kerl gehabt, schon lang nimmer«, mischte sich ein anderer ein - ebenfalls auf deutsch. Doch dessen Augen waren normal. Weiß die Iris, dunkelbraun die Pupillen.
Zamorra warf Nicole einen bezeichnenden Blick zu.
»Recht herzlichen Dank, die Herrschaften«, sagte er zu den drei Männern, nun ebenfalls auf deutsch, den dritten der Arbeiter dabei unmerklich taxierend. Auch er hatte diese Marmoraugen!
Es gelang ihm, die Männer mit seinem Deutsch seinerseits in Erstaunen zu versetzen. Für einen Moment zog er in Erwägung, sie direkt auf die
Weitere Kostenlose Bücher