0718 - Tango Fatal
schauen konnte.
Piccard war nicht bewußtlos geworden. Er jammerte auch nicht. Er lag einfach da und tat nichts.
»Pierre!« flüsterte ich. »Können Sie mich hören, Pierre? Verstehen Sie mich?«
Jetzt öffnete er die Augen. Sie waren klar, keine Fremdkraft veränderte mehr den Blick. Dann schlich sich der Ausdruck des Unbehagens oder der Angst ein, denn ich war für ihn ein Fremder.
Zwar hatten wir schon miteinander zu tun gehabt, da war er jedoch besessen gewesen, und an dieses Leben fehlte ihm wohl die Erinnerung.
»Was ist denn los?« flüsterte Pierre.
»Keine Sorge. Sie sind in Sicherheit. Ich bin bei Ihnen. Es wird nichts mehr geschehen.«
»In meinem Haus?«
»Nein, woanders.«
Er hob die Hände. Sie blieben dabei nicht mehr zusammen, so daß er gegen seine Handflächen schauen konnte und die Verletzungen erkannte.
»Gott!« keuchte er. »Das Blut, die Haut… wo kommt es her? Und… und… keine Schmerzen.«
»Ich habe es getan.«
»Aber warum?« Ich holte tief Luft. »Vorhin waren die Schmerzen noch da, jetzt nicht mehr und…«
»Lassen Sie es gut sein, nehmen Sie es hin. Können Sie denn laufen? Fühlen Sie sich stark genug.«
»Ich hoffe.«
»Dann werden Sie versuchen, das Haus zu verlassen. Okay?«
»Ja, aber…«
»Kein Aber. Ich sage Ihnen auch, wo Sie sich befinden, Pierre. In dieser ehemaligen Tanzschule, und mein Name ist John Sinclair. Ich bin derjenige, von dem der Abbé mit Ihnen gesprochen hat.«
Zunächst mußte er über meine Worte nachdenken. Allmählich nur ging ihm ein Licht auf, und er schloß für einen Moment die Augen, weil er das Gefühl der Erleichterung auskosten wollte.
Ich ließ ihn in Ruhe. Er sollte sich erholen, aber Pierre Piccard wollte nicht. Er sprach davon, daß er auf mich gewartet und eine Nachricht bekommen hätte.
»Von mir?«
»Das dachte ich auch. Aber so war es wohl nicht. Man lockte mich in den Garten. Dort sah ich die fremde Frau. Sie starrte mich an, sie hatte Augen, denen ich nicht entkommen konnte. Dann schlug sie mich nieder. Als ich erwachte, sah ich Sie…«
»Dann können Sie sich nicht daran erinnern, daß Sie mich hatten töten wollen?«
»Nein, um Himmels willen…«
Ich lächelte. »Es ist ja nichts passiert, Pierre. Jetzt versuchen Sie, aufzustehen.«
Er kam hoch. Ich half ihm dabei. Als er stand, preßte er seine Hände gegen die Wangen. Ich mußte ihn noch festhalten, und es machte ihm auch nichts aus, daß er das Blut in seinem Gesicht von den Handflächen her verteilte.
Ohne daß ich ihm etwas sagte, drehte er sich auf der Stelle um und verließ den Räum.
Ich leuchtete durch den dunklen Flur. Der Stuhl stand noch dort, ich sah auch die herabgebrannte Kerze. Es hatte sich eigentlich nichts verändert. Ich wollte von Pierre Piccard wissen, ob er sich in diesem Gebäude auskannte.
Seine Antwort klang beinahe entrüstet. »Nein, hier ist man als normaler Mensch nicht hergegangen.«
»Weshalb nicht? Weil hinter diesen Mauern etwas so Grauenhaftes geschehen ist?«
»Sie wissen davon?«
»Ja.«
Piccard überlegte. Er hob die Schultern, bevor er sprach. »Ja, es war furchtbar«, sagte er dann. »Sogar mehr als das. Ich selbst war nicht dabei, habe nur davon gehört, aber die Menschen wußten sich keinen anderen Ausweg mehr. Vor zwei Jahren haben sie das Ehepaar Sanchez umgebracht. Sie drangen ein und töteten es.«
»Warum denn? Was haben sie getan?«
»Sie waren schlecht. Beide waren schlecht. Der Mann ebenso wie die Frau. Da gab es keine Unterschiede. Sie lockten zahlreiche Menschen in ihre Schule, um sie dann zu manipulieren. Sie brachten ihnen bestimmt nicht den Tango bei, nein, das taten sie nicht. Aber sie lehrten sie die Kunst der Schwarzen Magie. Einige haben es nicht überstanden und sind wahnsinnig geworden. Die Polizei tat nichts. Zwar kam eine Untersuchungskommission von Straßburg herüber, aber beweisen konnte man dem Ehepaar Sanchez nichts. Das ärgerte die Bewohner. Die Wut wurde größer, und von der Wut zum Haß ist es ein kurzer Weg. Schließlich rotteten sie sich zusammen und töteten sie. Ja, so ist es damals gewesen.«
»Wie kamen die beiden ums Leben?«
Pierre Piccard hob die Schultern. »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich weiß es nicht. Die Menschen, die dabei waren, haben nicht darüber gesprochen. Das hatten sie sich auch gegenseitig geschworen, glaube ich.«
»Kennen Sie Namen?«
Er hob die Schultern. »Sicher, ich kenne einige. Aber bringt Ihnen das etwas?«
»Nein, sicherlich nicht«,
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