072 - Die Rache des Magiers
trocknete mit dem Taschentuch die Schweißperlen auf seiner Stirn. Mit leiser, gebrochener Stimme sagte er: „Es ist nichts, Albert. Kehren Sie an der nächsten Ausfahrt um. Wir fahren nach Hause.“
Zur gleichen Zeit fuhr Marie Walter mit der Straßenbahn in einen der Vororte. Sie wußte genau, wohin sie wollte. Außer ihr stieg niemand an der Haltestelle aus.
Es war ein sonniger Herbsttag. Marie ging an Schrebergärten vorbei, über ein Stück freies Feld. Sie erreichte die Barackensiedlung.
Marie Walter sah Fernsehantennen auf den baufälligen Hütten, in denen ein Hund sich zu hausen geschämt hätte, und zum Teil recht protzige Autos davor. Wäschefetzen flatterten auf Leinen. Schlampige Frauen standen mit Plastikeimern Schlange vor einem Wasserhahn.
Dreckige, zerlumpte Kinder prügelten sich, während ältere Jungen – zwölf oder dreizehn – mit der Zigarette im Mund dabeistanden und gute Ratschläge gaben. Ein Mädchen, selbst ein Kind noch, saß hochschwanger vor einem Wohnwagen. Ein unrasierter Mann lungerte zwischen den Baracken herum.
Marie Walter wurde scheel gemustert, denn sie paßte nicht hierher mit ihrem eleganten Herbstkostüm und ihrer gepflegten Frisur. Ein unrasierter alter Mann mit zerlöchertem Pullover trat ihr in den Weg. Sein Gesicht war von billigem Schnaps und einem hoffnungslosen Leben in der Gosse gezeichnet.
„Wo wollen Sie hin?“
„Zu Sophie Ardel.“
Der Mann musterte sie, deutete dann auf einen etwas abseits stehenden Wohnwagen, von dem die Farbe abblätterte.
„Dort.“
Marie dankte kurz und ging zu dem Wohnwagen. Sie stieg die drei morschen Holzstufen hoch, klopfte an die Tür. Eine krächzende Stimme antwortete. Marie öffnete, trat ein.
In dem Wohnwagen stank es so, daß sie am liebsten rückwärts wieder hinausgegangen wäre.
Im Ausguß türmte sich unabgewaschenes Geschirr, und überall lag schmutzige Wäsche herum. Die Einrichtung des Wohnwagens schien von Abfallhalden zu stammen.
Auf der schmutzigen Couch saß eine Frau in einem schwarzen Rock und einer fleckigen, tief ausgeschnittenen roten Bluse. Ihr Hals war faltig und ihr Fleisch schlaff. In ihrem Mundwinkel hing eine Zigarette. Ein Glas Fusel stand in ihrer Nähe. Sie roch durchdringend nach Schweiß und billigem Schnaps.
Ihr Alter war schwer zu schätzen, aber sie wirkte mindestens zwanzig Jahre älter als die achtundvierzigjährige Marie Walter. Ihr Gesicht war das einer Hexe. Abstoßend häßlich und boshaft, von Runzeln und Falten durchzogen. Ihr dünnes schwarzes Haar war fettig.
Sie sah Marie Walter an, und plötzlich lachte sie schrill.
„Marie, meine liebe Freundin. Dich hätte ich hier nicht zu sehen erwartet. Was führt dich denn hierher?“
Erschüttert sah Marie, was die Jahre und das Leben aus der Frau gemacht hatten, die einmal ihre Schulkameradin gewesen war. Marie Walter und Sophie Ardel hatten zusammen das Bismarck-Gymnasium besucht. Sophie Ardel ging kurz nach der mittleren Reife ab, brannte mit einem Zauberkünstler durch. Nach dem Krieg, bis Anfang der fünfziger Jahre, hatte sie einen guten Namen bei Zirkus – und Varieteunternehmen gehabt. Sie war unter der Ankündigung‚ Die magische Sophie’ aufgetreten, und etliche Presseartikel hatten behauptet, sie besäße übernatürliche Kräfte und Fähigkeiten.
Dann wurde es still um sie. Später war Sophie Ardel in einen Prozeß verwickelt, in dem es um Hexenzauber und Satansbeschwörung und einen Mord ging. Sie hatte acht Jahre im Zuchthaus verbracht.
„Sophie“, sagte Marie erschüttert, als sie die einst so hübsche Jugendfreundin erblickte. „Ich hätte dich fast nicht wiedererkannt.“
„Kein Wunder, ich bin auch kaum noch zu erkennen. Also, Marie, was willst du? Du bist doch nicht nur gekommen, um mir guten Tag zu sagen?“
„Ich brauche deine Hilfe, Sophie.“
Marie Walter setzte sich auf einen der Stühle. Ein Glas Schnaps lehnte sie ab, akzeptierte aber eine Zigarette. Sie erzählte Sophie Ardel alles, was sich im Haus des Bankiers zugetragen hatte.
Plötzlich erschrak Marie Walter furchtbar. Etwas huschte über den Boden, fiepte und kletterte auf Sophie Ardels Schoß. Es war eine fette Ratte. Sie musterte Marie mit ihren dunklen Knopfaugen, zeigte die spitzen Nagezähne.
Sophie streichelte die Ratte, gab ihr Kosenamen.
„Ei, ei, ei, mein Liebling, meine süße Elfie! Wo warst du denn so lange? Ei, ei, ei, mein Schatz!“
Marie schüttelte sich fast vor Ekel.
„Das ist Elfie“, sagte
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