072 - Die Rache des Magiers
Walter.
„Sie, wir sprechen uns noch! Nur von Ihnen können Sorell und dieser andere das von Irene wissen!“
Marie Walter erwartete eine wilde Szene. Sie hörte von draußen Motorengeräusch. Dr. Sorell und Bernhard Eberlein fuhren weg. Doch Kronberger schrie nicht mehr. Er hielt die Hand ans Herz gepreßt. Nach der Nervenbelastung und all den Aufregungen der letzten Tage war dieser Auftritt zuviel für ihn gewesen. Marie lief zu ihm, stützte ihn.
„Lassen Sie“, keuchte er. „Ich muß mich nur etwas ausruhen. Es ist die Aufregung.“
Er schob Marie von sich, ging zu einem der Aufenthaltsräume im Erdgeschoß der riesigen Villa. Schweratmend ließ er sich auf der Couch nieder.
„Gehen Sie nur“, sagte er zu Marie, die in der Tür stand und ihn beobachtete. „In ein paar Minuten geht es mir wieder besser.“
Sie schloß die Tür. Kronbergers Jackett hing an der Garderobe. Es war niemand in der Nähe. Marie durchsuchte die Taschen, fand einen Schlüsselbund und einen einzelnen Schlüssel. Sie nahm beides an sich.
Niemand war in der Nähe, als sie die Treppe hochstieg. Der einzelne Schlüssel paßte ins Schloß des Zimmers, in dem die Tote aufgebahrt lag. Marie sperrte auf, trat in den Raum.
Sie verzog die Nase, denn die Luft war erfüllt von Blumenduft und schwerem Parfüm. Im Halbdunkel sah Marie den gläsernen Sarg und die beiden silbernen Kerzenleuchter. Sie trat näher, leise, obwohl die Frau in dem Sarg tot war.
Irene Kronberger sah aus, als schliefe sie nur. Ihre Hände waren über der Brust gefaltet, die Augen geschlossen. Marie Walters Blick schweifte von dem blauen Kleid zum Gesicht der Toten, zu dem glänzenden, blonden Haar. Plötzlich erschrak sie, beugte sich über die Tote und sah genauer hin.
Kein Zweifel, da waren Spuren von Tränen auf dem rosig geschminkten Gesicht.
Marie Walter ging rückwärts bis zur Tür. Dann drehte sie sich um, schlüpfte schnell hinaus, warf die Tür hinter sich zu. Sie schloß ab, drehte den Schlüssel zweimal um.
Eine ganze Weile stand Marie Walter da, versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Entsetzen beherrschte sie. Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein. Irene Kronberger war doch tot. Wie konnte sie da weinen, wie konnte ihre Stimme nachts im Hause zu hören sein? Was ging da vor?
Marie Walter stieg die Treppe hinunter. Sie schob die Schlüssel zurück in Kronbergers Jackettasche. Sie wußte keinen Rat mehr. Sophie Ardel, ihre frühere Schulkollegin mit den okkulten Kenntnissen und Fähigkeiten, war ihre letzte Hoffnung.
An der Straße zum Barackenlager stand ein großer, breitschultriger Mann, die Pfeife im Mund. Er sah dem näherkommenden Taxi entgegen. Das Taxi hielt, eine Frau stieg aus. Sie trug einen hellgrauen Pelzmantel und einen eleganten grünen Hut.
Es war schon kalt. Die Sterne standen hell und klar am frostigen Himmel. Aus dem Barackenlager drangen Lärm und Gegröle, das Keifen einer Frauenstimme.
„Sind Sie Balduin?“ fragte die Frau den Breitschultrigen.
Er nickte, behielt die Pfeife im Mund.
„Warten Sie auf mich“, sagte die Frau zu dem Taxifahrer. „Es wird nicht lange dauern. Bleiben Sie auf jeden Fall hier.“
„Gut“, sagte er. „Solange Sie die Zeit bezahlen, soll’s mir recht sein.“
Der Breitschultrige führte Marie Walter durch das Barackenlager zum Wohnwagen Sophie Ardels. Er wartete draußen. Sophie Ardel war nicht allein im Wohnwagen. Ein Mann war bei ihr.
Er trug einen schwarzen, altmodischen Anzug mit hohem, steifem Kragen, hatte eine fahle Gesichtsfarbe und seltsam glühende Augen. Er hielt sich im Hintergrund, als Marie Walter und Sophie Ardel sich begrüßten.
„Er wird dir helfen“, sagte Sophie Ardel, nachdem sie ein paar Worte mit Marie gewechselt hatte. „Das ist sie, Meister!“ fügte sie, an den Kleinen gewandt, hinzu.
„Du willst also wissen, was um Mitternacht in dem verschlossenen Zimmer vor sieht geht?“ fragte der unheimliche Mann Marie. „Hier, nimm diesen Schlüssel. Geh um punkt zwölf Uhr zum Totenzimmer und lausche an der Tür. Dann schließ auf und tritt ein. Nur so kannst du dir Gewißheit verschaffen!“
Marie gefiel der Kleine nicht. Sie nahm den Schlüssel entgegen und zuckte vor seiner Hand zurück, als fürchte sie, sich zu verbrennen. Unsicher sah sie Sophie Ardel an.
„Tu nur, was der Meister sagt“, sagte diese. „Der Meister weiß alles.“
Es stand nur eine altertümliche Petroleumlampe auf dem Tisch. In ihrem blassen Schein wirkten die
Weitere Kostenlose Bücher