072 - Die Schlangengöttin
lauter Schlangen in der Höhle. Die Höhle führte weit in den Berg hinein, was zuvor nicht der Fall gewesen war. Wir flüchteten vor der Schlangenbrut in den Berg und kamen in ein Höhlenlabyrinth. Ich verlor Malcolm aus den Augen und rannte in einen Gang, der ganz finster wurde. Auf einmal hörte ich ein Zischen, und stinkender Atem wehte mir entgegen. Ein düsteres Glimmen erhellte die Finsternis. Ich sah eine riesige Schlangenzunge vor mir und lange Giftzähne, von denen eine grünliche Flüssigkeit troff. Ich glaubte, den Verstand zu verlieren, als ich erkannte, daß ich direkt in den Rachen einer Riesenschlange gelaufen war. Sie schloß den Rachen, und ich mußte mich ducken. Zurück konnte ich nicht mehr. Dann spürte ich Muskelbewegungen und wurde in den stinkenden Schlund gedrückt - verschlungen. Von da an weiß ich nichts mehr. Ich habe nur noch dunkle Erinnerungen."
„Woran, Xenia?"
Wir waren an der Ecke stehengeblieben. In der Straße vor uns befand sich das Hotel Ambrakia.
„Es war dunkel, und ich war immer von schuppigen Schlangenleibern umgeben. Sie ringelten sich um meinen nackten Körper. Ich wollte sterben vor Ekel und Angst und entsinne mich - an Schmerzen - und Demütigungen."
Xenia senkte den Kopf und schluchzte leise. Sie erschien in der Dämmerung sehr zart, mädchenhaft und verwundbar. Ich legte einen Arm um ihre Schultern.
„Sonst weißt du nichts mehr? Du weißt nicht, wie du aus den Höhlen herausgekommen bist, mit anderen Schlangenanbetern Kontakt aufgenommen hast und schließlich hierhergekommen bist?" „Nein. Was ich weiß und ahne, genügt mir. Es war furchtbar. Ich möchte tot sein."
Ich klopfte ihr beruhigend auf den Rücken. Zwei Polizeiwagen fuhren an uns vorbei und hielten vor dem Hotel Ambrakia. Polizisten sprangen heraus und rannten ins Hotel. Offenbar war es Thomas Becker gelungen, die Polizei zu erreichen.
Meine Gedanken jagten sich. Wenn ich Xenia zum Hotel brachte, wurde sie von der Polizei verhaftet. Vielleicht sah ich sie nie wieder und hatte keine Chance, durch sie etwas zu erfahren.
„Was hast du unter diesem Burnus an?" fragte ich.
Sie griff unter den Umhang.
„Eine Hose und eine Bluse. Warum?"
„Schnell, zieh den Burnus aus! Man darf dich damit nicht sehen. Die Polizei wird gleich eine Razzia auf die Burnusträger veranstalten."
Xenia gehorchte. In den alten Jeans und der engen roten Bluse wirkte sie sehr schlank. Ich knüllte den Burnus zusammen und warf ihn über eine Mauer. Dann führte ich Xenia in ein Lokal, das in einer Gasse auf der andern Straßenseite lag. Ich schickte sie auf die Toilette, damit sie sich das Gesicht wusch. Wohlweislich wartete ich draußen auf dem Flur. Aber Xenia machte keine Anstalten, zu fliehen; im Gegenteil; sie war froh, als sie mich warten sah.
„Sie werden mich nicht im Stich lassen, nein? Ich habe so entsetzliche Angst. Ich kenne nicht einmal Ihren Namen."
„Ich heiße Dorian. Du kannst du zu mir sagen, Xenia."
Arm in Arm kehrten wir in die Gaststube zurück. Der Wirt hatte die beiden Kännchen Kaffee und den Ouzo hingestellt, die ich bestellt hatte. Wir tranken.
„Ich habe furchtbaren Hunger", sagte Xenia. „Ich glaube, ich habe seit Tagen nichts mehr gegessen. "
„Du kannst anderswo etwas essen", sagte ich. „Ich werde ein Zimmer für die Nacht für dich mieten und morgen werden wir zu den Höhlen der Hippies fahren, uns dort umsehen und versuchen, herauszufinden, was aus Malcolm Pratten geworden ist."
Xenia begann zu zittern. „Dorian, muß ich dorthin? Ich habe Angst."
„Ich bin bei dir", sagte ich, „und mich begleiten noch zwei andere Männer. Wir werden Waffen mitnehmen."
„Ich fürchte mich trotzdem. Ich will nicht dorthin."
„Du weißt anscheinend nicht, wie ernst die Sache ist, in die du verwickelt bist. Vor einer knappen Stunde ist ein Mann durch einen Schlangenbiß getötet worden. Ich möchte dir nicht drohen, Xenia, aber ich kann dich auch zur Polizei bringen."
Natürlich hatte ich das nicht vor, aber das wußte sie nicht.
„Nein", sagte sie, „nein, ich werde mitgehen. Aber du mußt mich beschützen, Dorian."
„So gut ich kann. Wenn es sein muß, sogar mit meinem Leben."
Sie nickte. „Ich habe Vertrauen zu dir."
Ich nahm die gnostische Gemme von der Brust, die ich an einer Kette um den Hals trug. Vor Xenias Gesicht ließ ich sie hin und her pendeln.
„Sieh mich an!"
Sie schaute mir in die Augen. Ihre Augen waren grün mit ein paar gelben Pünktchen in der Iris. Sie
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