072 - Die Schlangengöttin
hineingießen, was er wollte.
Mein siebzehnter Geburtstag kam. Für mich war das ein sehr wichtiges Datum, denn ich fühlte mich damit dem Erwachsensein schon ein ganzes Stück näher. Fünfzehnjährige waren Kinder, Sechzehnjährige hatten schon von manchen Dingen eine Ahnung, mit siebzehn aber, mit siebzehn war man fast achtzehn und damit ein vollwertiger Mann. Dann konnten einem alte Knochen von fünfundzwanzig Jahren und darüber hinaus nichts mehr vormachen, von den Greisen über Dreißig ganz zu schweigen.
Natürlich gab ich eine Feier, zu der alles eingeladen war, was Rang und Namen hatte in Iraklion. Sogar der Gouverneur hatte mir ein Geschenk geschickt, gehörte doch mein Vater Jacopo zum einflußreichen Rat der Zehn in Venedig und zum engen Kreis um den Dogen, und der zweite Sohn des Gouverneurs war zu unserem Festbankett erschienen.
Auch Oriana Dali war da. Sie durfte nicht an meiner Seite sitzen, sonst hätten die Leute zu viel geredet. Zu meiner Rechten, an der Stirnseite der Tafel, saß Ludovica Ganese, die ebenso schön wie tugendhaft war. Zu meiner Linken hatte mein Bruder Marino Platz genommen, der nur noch ein Schatten seiner selbst war.
Es waren hauptsächlich junge Leute gekommen, darunter auch einige Osmanen. Suleiman der Große herrschte im 37. Jahr, und das osmanische Reich hatte seine größte Ausdehnung und Macht gewonnen. Bis nach Wien waren die Truppen des großen Kalifen 1529 vorgestoßen. Unter dem Großadmiral Chaireddin Barbarossa war die Türkei auch noch zu einer Seemacht geworden, die als die mächtigste ihrer Zeit galt. Venedig hatte es bisher nur durch geschicktes diplomatisches Taktieren vermieden, daß Kandia das Schicksal von Rhodos teilte, das die Türken den Johannitern entrissen hatten.
Wir waren sehr höflich zu den Muselmanen, die unser Bankett besuchten, und bemühten uns, sie mit Bauchtänzerinnen, Zauberkünstlern und Artisten zu unterhalten. Die meisten tranken heimlich, obwohl der Koran Alkohol verbot.
Gegen Mitternacht war die Gesellschaft schon sehr ausgelassen, und die Türken lachten und lärmten mit uns. Eine Bauchtänzerin mit einem Diamanten im Nabel verrenkte sich vor mir auf dem Tisch. Als ich mit heißem Kopf nach ihr griff, rannte sie über die lange Tafel davon.
Marino, mein Bruder, erhob sich nun. Ein Diener brachte ihm den großen, reichverzierten Pokal, der gut zwei Liter faßte. Marino schnupperte an dem geharzten Retinawein, dann hob er den Pokal mit beiden Händen hoch über den Kopf.
„Ich trinke diesen Becher auf das Wohl meines Bruders Michele, der auf Kandia zu einem Mann geworden ist", rief er. „Möge er unserer Familie Ehre machen und reich und glücklich werden." Beifallrufe wurden laut.
„Du mußt den Pokal auf einen Zug leeren, sonst geht dein Wunsch nicht in Erfüllung, Marino", rief eine Schöne, die eine Larve vor den Augen trug.
Marino wollte den Becher ansetzen. Da züngelte eine Schlange daraus hervor, schwarz und rot gefleckt, wie ich noch nie eine gesehen hatte. Ehe noch jemand reagieren oder auch nur einen Schrei ausstoßen konnte, schnellte sie vor und biß Marino in die Nasenwurzel. Er schrie auf und schlug die Hände vors Gesicht. Der Pokal fiel auf den Tisch und von da auf den Boden. Männer und Frauen schrien erschrocken. Die schwarze Schlange mit den roten Flecken verschwand unter dem Tisch.
Sie wurde nicht gefunden, wie die Diener und einige von den Gästen auch suchten.
Marino brach mit einem Aufstöhnen zusammen. Der Baske Pablo und zwei Diener trugen ihn in seine Kammer im ersten Stock. Ich ließ die Gäste im Stich und folgte ihnen.
Marino wurde aufs Bett gelegt. Er stöhnte und wälzte sich hin und her. Sein Körper glühte im Fieber. Pablo machte einen Kreuzschnitt und versuchte, die Wunde auszusaugen; aber das half nichts. Diener wurden geschickt, um einen Arzt zu holen. Marino begann wirr und unzusammenhängend zu fantasieren.
„Ophit!" stöhnte er immer wieder. „Hab Erbarmen! Ich will meine Schuld vollends sühnen. Mächtiger Dämon, ich gehöre dir! Deine Kinder - ich nähre sie an meinem Busen."
Ich mußte wieder daran denken, was sich vor fast einem halben Jahr auf der Schlangeninsel abgespielt hatte.
„.. an meinem Busen", stöhnte Marino nochmals.
Mir fiel ein, daß er sich seither niemals mehr vor einem anderen Menschen entkleidet hatte. Auch im Bad durfte ihm kein Diener helfen oder auch nur etwas reichen.
„Wir müssen ihn ausziehen, Pablo", sagte ich.
Der Baske half mir. Wir zogen
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