072 - Die Schlangengöttin
lächelte ein wenig.
Ich hypnotisierte sie und merkte, wie ihre Augen starr wurden und sie entspannte. Im Lokal saßen nur wenige Gäste. Wir hatten in der Ecke Platz genommen, und niemand achtete auf uns.
„Sprich, Xenia!" sagte ich. „Wer bist du? Woher kommst du? Und woran erinnerst du dich?"
Sie erzählte mir das gleiche wie vorhin, ein wenig ausführlicher, aber nichts Neues. Von dem Zeitpunkt an, als die Riesenschlange sie verschlungen hatte, wußte sie nichts mehr.
Bei der zweiten Erwähnung der Riesenschlange mußte ich wieder an mein Leben als Michele da Mosto denken. Ich spürte, daß ich ganz nahe daran war, mich an Dinge zu erinnern, die nach meiner Ankunft auf Kandia im August 1556 geschehen waren. Doch jetzt war nicht die Zeit, diesen Gedanken nachzuhängen. Zuerst mußte ich Xenia irgendwo unterbringen.
Ich stellte ihr noch ein paar Fragen, erfuhr aber nichts von Bedeutung.
Der Wirt hatte ein Telefon hinter dem Tresen. Ich rief vom Lokal aus das Hotel Ambrakia an und verlangte Thomas Becker. Ein Mann, den ich für einen Polizeibeamten hielt, rief ihn herbei.
„Wo steckst du, Dorian?" legte Thomas gleich los. „Peter und ich machen uns schon die größten Sorgen um dich."
„Die Schlangenanbeter waren noch ganz in der Nähe des Hotels", sagte ich. „Ich verfolgte sie, aber ich habe keinen von ihnen erwischt." Das log ich für den Fall, daß die Polizei mithörte. „Aber ich habe eine andere Quelle angezapft, die mir recht vielversprechend erscheint. Es wird noch eine Weile dauern, bis ich ins Hotel komme. Ihr könnt unbesorgt sein. Der Polizei stehe ich dann morgen für Aussagen zur Verfügung.“
„Kannst du mir denn nicht sagen,. wo du bist?“
„Nein, das geht aus verschiedenen Gründen nicht. Was ist mit dem Hotelportier und den Pagen?" „Ein Arzt kümmert sich um sie. Sie sind wieder zu sich gekommen, aber so benommen wie nach einem schweren Rausch. Sie torkeln und plappern sinnloses Zeug."
„Das werden sie hoffentlich bald überstehen. Bis später, Thomas! Ihr bleibt doch im Hotel?"
„Ja, aber in anderen Zimmern und mit einer Polizeiwache. Die Biester in meinem Zimmer sind inzwischen auch erledigt. Die Polizei nimmt an, daß es sich bei dem Schlangenanschlag um den kultischen Akt einer obskuren Sekte gehandelt hat, oder daß wir mit irgendwelchen Leuten verwechselt wurden. Ich bin ein völlig harmloser Professor, der sich mit einem seiner Studenten in den Ruinen von Knossos umtun will. Und du bist ein Reporter, der sich für Archäologie interessiert."
Wir unterhielten uns in Englisch. Zwei von den Polizeibeamten verstanden diese Sprache. Einer stand neben Becker. Der andere hörte das Gespräch über den Telefonapparat im Nebenzimmer mit. „Natürlich. Genauso ist es", sagte ich. „Trotzdem will ich versuchen, vielleicht etwas über die Sache herauszufinden. Bis später, Thomas!"
Ich legte auf, zahlte und verließ mit Xenia das Lokal. Es war dunkel geworden. Ein kalter Wind blies vom Meer her. Ich fand ein kleines Logierhaus, wo ich ein Zimmer für das Mädchen mietete.
In dem Lokal nebenan bestellte ich für uns beide in Öl gebackenen Hammelbraten mit Oliven und geharzten Wein. Ich hatte jetzt auch Hunger. Xenia aß heißhungrig und vertilgte noch eine zweite große Portion. Dann brachte ich sie ins Logierhaus und schärfte ihr ein, sich nicht von der Stelle zu rühren, bis ich sie am nächsten Morgen abholte. Sie lächelte mich an, als ich mich zum Gehen wandte, trat schnell auf mich zu, schlang die Arme um meinen Hals und gab mir einen Kuß. Einen Augenblick nur spürte ich ihre vollen, warmen Lippen.
„Danke, Dorian", sagte sie.
Ich nickte und ging.
Xenia schloß die Tür hinter mir ab.
Während ich zum Hotel zurückwanderte, überlegte ich, weshalb die Burnusträger nicht gleich verschwunden waren, nachdem sie die Schlangen in unseren Zimmern ausgesetzt hatten. Ich glaubte keinen Augenblick, daß sie uns nur zufällig als Opfer ausgesucht hatten.
Die Schlangengöttin betrachtete die Schlangen als ihre Kinder; sie wollte nicht, daß ihnen etwas geschah. Deshalb hätten die Burnusträger sie nach vollbrachter Tat wohl wieder aus dem Hotel fortbringen sollen.
Im Hotel Ambrakia traf ich zwei Polizisten an. Ich sagte ihnen, daß ich ein harmloser Tourist sei und keine Ahnung hätte, weshalb man mir die Schlangen ins Zimmer gesetzt hatte. Weiter erzählte ich, ich hätte die Burnusträger vergebens verfolgt und wäre schließlich auf einen Mann gestoßen, der
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