073 - Der Schlaechter
verzichten. Also erhob er sich, setzte sich an den Tisch und fiel heißhungrig über das Essen her. Es war ausgezeichnet, wenn auch in der Zwischenzeit kalt geworden.
Während der Mahlzeit jagten die Gedanken durch sein Gehirn. Er hatte es doch mit einem Genie zu tun, allerdings außerhalb der Legalität.
Es stimmte, die Wissenschaft war in den letzten Jahrhunderten nur langsam fortgeschritten. Wie lange hatte es zum Beispiel gedauert, bis die Anästhesie und die Antisepsis anerkannt wurden. Wenn man sich vorstellte, daß früher die Ärzte ohne Narkose und ohne keimtötende Mittel gearbeitet hatten! Sie hatten sich nicht einmal die Hände vor einem operativen Eingriff gewaschen.
Im zwanzigsten Jahrhundert jedoch zeichnete sich auf vielen Gebieten der Medizin ein gewaltiger Fortschritt ab. Die Wissenschaft hatte einen Riesensprung nach vorn gemacht.
Dann schweiften seine Gedanken ab. Er überlegte, ob er an der Operation teilnehmen sollte, die Dr. Kappa vornahm.
Nein, ich gehe nicht, beschloß er. Ich will mich nicht mitschuldig machen.
Aber sein Herz blutete bei dem Gedanken, daß er dadurch eine einmalige Erfahrung verpaßte, etwas, das für die Zukunft der Menschheit von unerhörter Wichtigkeit werden konnte.
Plötzlich überkam ihn eine wohltuende Müdigkeit. Hatte der Chirurg in sein Getränk vielleicht ein Schlafmittel getan?
Er konnte gerade noch sein Bett erreichen und sich niederlegen, als er schon in tiefen Schlummer versank.
Am nächsten Morgen wachte Dr. Heintz auf, als man ihm das Frühstück brachte. Anstelle des kleinen Pagen kam eine alte, stumme Frau mit dem Tablett. Der Schmerz um den kleinen Jungen durchdrang Heintz von neuem.
Plötzlich bemerkte er einen zusammengefalteten Brief, der an der Tasse lehnte. Heintz faltete ihn neugierig und las folgendes: „Lieber Kollege, ich führe die Operation heute morgen durch. Wenn Sie Interesse haben, kommen Sie gegen elf Uhr. Die Schwarzen haben Befehl, Sie zu mir zu bringen. Man gibt Ihnen einen Arztkittel, Maske, Handschuhe, Wasser und Seife. Halten Sie sich bereit. Wenn ich rufe, kommen Sie in den Operationssaal. Meine Arbeit ist dann schon fast beendet. Ich muß dann nur noch das neue Herz einsetzen. Ihr empfindliches Gewissen kann also ganz beruhigt sein. Pech für Sie, wenn Sie nicht kommen. Aber es wird noch viele Operationen geben, denen Sie assistieren müssen. KAPPA.
P. S.: Ich weiß, daß Sie kommen werden. Sie können es kaum erwarten, stimmt’s?“
Um Viertel vor elf stand Heintz im Vorzimmer der sogenannten Klinik. Er wartete auf Kappas Zeichen. Sein Herz klopfte zum Zerspringen.
Er wußte: Im Nebenraum wurde jemand getötet, aber ein anderer erhielt neues Leben.
Die Tür ging auf. Die Neger, die den Eingang versperrt hatten, traten zur Seite, um Heintz eintreten zu lassen. Der Arzt blieb erstarrt auf der Schwelle stehen.
Von weitem sah er Kappa neben den zwei Körpern. Der Chirurg hielt in seiner Hand das Herz des Mannes, den er soeben getötet hatte. Heintz glaubte das Herz zucken zu sehen.
Heintz starrte gebannt auf das Herz und näherte sich ihm wie unter einem hypnotischen Zwang. Aber schon war das Herz verschwunden: Kappa hatte es mit einem raschen Griff in die Brust des Malers gelegt.
Kappa und seine Assistenten arbeiteten so perfekt zusammen wie ein wohleinstudiertes Ballett, das so schnell und präzise funktionierte, daß es fast gespenstisch war. So ein aufeinander eingespieltes Team hatte Dr. Heintz während seiner ganzen Arztlaufbahn noch nie erlebt.
Schon war Kappa dabei, die Brust des Malers zusammenzunähen. Einer der Assistenten hatte den Leichnam des Verbrechers und das Herz des Malers in Windeseile fortgeschafft.
Da hob sich die Brust des Malers. Schon begann er zu atmen, die Augen zu öffnen, die Lippen zu bewegen.
Das fremde Herz schlug wie selbstverständlich in dem fremden Körper, das Blut pulsierte. Das Herz nahm dieses fremde Blut auf und schickte es wieder ohne Störungen durch den ganzen Körper.
„Na, was sagen Sie dazu?“ fragte Kappa und zog seine Handschuhe aus.
Heintz war zu bewegt, um zu antworten. Aber seine Aufregung und auch seine Bewunderung waren offenkundig. Eine Bewunderung übrigens, die mit Abscheu gemischt war.
Denn da draußen im Park hörte man das Geräusch von Schaufeln. Da unten wurde ein Loch gegraben, in das die Leiche des Verbrechers und das ehemalige Herz des Malers geworfen wurden. Opfer der perversen Vergnügungen eines abartigen
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