0736 - Jäger der Nacht
Jetzt konnte sie es nicht erwarten, daß die beiden kamen. Sie war nervös, sie suchte nach Zigaretten. Irgendwo hatte sie welche gesehen, nur konnte sie sich nicht daran erinnern.
Sie fand sie auf dem Bett. Wie die Schachtel, in der noch vier Stäbchen waren, dorthin gekommen war, konnte sie nicht sagen. Jedenfalls war sie froh, rauchen zu können.
Sie dachte an Anne.
Die wußte von nichts, die hatte überhaupt keine Ahnung, was hier vorgefallen war. Sie kam dank ihrer Leichtlebigkeit viel besser durchs Leben als May.
Was sollte sie tun?
Es gab nichts, es gab überhaupt nichts. Sie mußte auf die Männer warten und ansonsten konnte sie nur hoffen, daß nichts Schlimmes passierte.
Nicht noch einmal dieser Vogel…
May schüttelte sich, als sie an ihn dachte. Dabei achtete sie nicht auf ihre Zigarette und auf die Asche, die nach unten fiel. Es war ihr egal, daß sie den Teppich beschmutzte.
Warten - Die Zeit verstrich.
Jede vergehende Sekunde wurde beinahe für sie zu einem Gongschlag, der in ihrem Hirn widerhallte und ihr nicht eben geringe Schauer der Angst über den Rücken rieseln ließ.
Der Magen war klumpig, die Angst saß fest. Sie mußte aufstoßen.
Im Mund spürte sie einen galligen Geschmack. Furcht durchrieselte sie. Auf ihrer Nackenhaut lag der Schauer wie winzige Körner aus Eis. Sie stand auf, die Gelenke taten ihr weh, als wäre sie eine alte Frau mit Rheuma.
Das durfte doch nicht sein. Nicht jetzt schon. Sie fürchtete sich vor allem, sie…
Dann sah sie das Fenster!
Es war völlig normal. Ein ins Mauerwerk gesetztes Viereck, doch für sie war es in diesem Augenblick zu etwas anderem geworden, obwohl es seine äußere Form beibehalten hatte. Es war das Tor zu einer anderen Welt, die sich in der tiefen Finsternis versteckt hielt.
Sehr deutlich merkte May das Zittern ihrer Knie, als sie sich dem Fenster näherte. Sie wollte es gar nicht, sie tat es trotzdem. Dabei kam sie sich vor, als hinge sie an einer Leine, die ein ebenfalls Unsichtbarer in der Hand hielt, um sie auf das Fenster zuzuziehen.
May Feldman wehrte sich nicht. Es ging einfach nicht. Das Fenster war für sie das große Ziel. Es lockte, es machte ihr klar, daß sie zu kommen hatte.
Also ging sie hin.
Schritt für Schritt…
Ihr Herz klopfte schneller. Schweiß bildete sich auf dem Gesicht.
Ein Muster aus Perlen auf der Stirn und auf den Wangen eine ölige Schicht hinterlassend.
Dicht vor dem Fenster blieb die junge Frau stehen. Schwach sah sie ihr Spiegelbild in der Scheibe. Die Umrisse ihres Gesichts verschwammen so sehr, daß sie nicht mehr als die eines Menschen zu erkennen waren. Nur die Augen traten darin hervor. Sie wirkten wie zwei kleine Seen, sehr dunkel und rätselhaft.
Warm war ihr, nein, schon heiß.
Das Kleid erinnerte sie ebenfalls an einen Ofen. Sie konnte es nicht mehr tragen, der Stoff kratzte auf der Haut. May schüttelte sich. Sie ging etwas zurück, faßte das Kleid am Saum und fing an, es über den Kopf zu ziehen.
Als sie es bereits über ihr Gesicht gestreift hatte, fiel ihr ein, daß es Unsinn war, was sie hier tat. In der Haltung blieb sie stehen. Dunkelheit umgab sie. Der dichte Stoff ließ kaum Licht hindurch. Er war wie eine Welle, die alles verschlungen hatte.
May blieb noch immer in dieser Haltung stehen. Es war verrückt, das sagte sie sich selbst, und es dauerte trotzdem noch eine Weile, bis sie alles rückgängig gemacht hatte.
May ließ den Saum los. Der Stoff fiel wieder nach unten, sie konnte besser sehen – und schaute gegen das Viereck des Fensters.
Die Höhle, der Eingang zu einem unheimlichen Reich, wo das Grauen loderte und sich Gestalten versammelten, die ausschließlich in einer anderen Welt lebten.
Furcht schüttelte sie.
Kälte und Wärme wechselten sich ab. Beides rieselte wie Ströme an ihrem Rücken herab.
Sie wartete…
Warum wartete sie?
May konnte sich die Antwort nicht geben, aber sie hatte etwas gehört. Zuerst nur ein Zischen, als hätte jemand einen Gashahn aufgedreht. Das Geräusch ließ ihr einen Schauer über den Rücken sausen.
Sie dachte an die Küche, aber dort stand kein Gasherd. Wenn sie kochen wollte, dann mit Strom.
Warum das Zischen?
Oder hielt sich eine verdammte Schlange in der Wohnung versteckt? Der Gedanke daran ließ die Panik in ihr hochsteigen. Zu den wenigen Dingen, vor denen sie sich schrecklich fürchtete, gehörten Schlangen. Das stammte noch aus ihrer Kindheit.
Das Zischen verstummte.
May atmete auf.
Einen Moment später
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