0742 - Der Junge mit dem Jenseitsblick
mein Leben an. Nicht mehr und nicht weniger.«
»Aber ich war doch nicht betroffen.«
Ich zeigte mit den vier Zinken der Gabel auf sie. »Noch nicht, Jessica.«
»Du meinst, das könnte sich ändern?«
»Ja.«
Sie nickte, aber nicht, weil sie mich bestätigen wollte. »Laß uns erst einmal essen.«
Ich hatte es mir angewöhnt, gewisse Dinge schnell zu vergessen und ließ mir auch diesmal den Appetit nicht verderben. Die Wurst und der Schinken schmeckten mir ausgezeichnet, ich bestellte noch ein zweites Bier und schaffte es auch, die unschönen Gedanken zu verdrängen. Jessica sprach das Thema ebenfalls nicht mehr an. Sie beschäftigte sich mit ihrem Salat, der sehr gut aussah, und das Fleisch dazu schmeckte ihr ebenfalls, wie sie sagte.
Ich schaffte die Wurst nicht ganz, und Jessica klaubte mir die beiden letzten Salamischeiben vom Teller. Sie lächelte beim Kauen, schaute mich an und lächelte weiter.
»Was macht dir so einen Spaß?«
»Du bist es.«
»Ich? Wieso?«
»Es arbeitet hinter deiner Stirn. Du wälzt schwere Probleme, das erkenne ich genau, aber du weißt nicht, wie du sie lösen kannst und wie du sie mir beibringen sollst.«
»Stimmt genau.« Ich schob den Teller in die Mitte des Tisches.
Sie deutete auf ihn. »Das, mein lieber John, lasse ich nicht mit mir machen.«
»Wie meinst du?«
»Abschieben.«
Ich verdrehte die Augen. »Davon hat auch niemand direkt gesprochen. Ich habe nur laut darüber nachgedacht, was, noch passieren könnte. Ist das denn so schlimm?«
»Überhaupt nicht«, gab sie zuckersüß zurück und setzte die Prise Salz nach. »Sofern es nicht mich betrifft. Daß ich mich zu wehren weiß, habe ich schon des öfteren bewiesen, nicht nur auf, dem See, sondern auch in London.«
»Stimmt alles.«
»Wo liegt dann das Problem?«
»Ganz einfach, Jessica. Dieses Einbrechen ins Eis könnte erst der Beginn gewesen sein. Bei der nächsten Attacke werden härtere Geschütze aufgefahren.«
»Vorausgesetzt, du hast mit deiner Theorie recht.«
»Davon gehe ich aus.«
»Mir gestattest du aber, daß ich daran zweifle - oder?« Sie erhob sich und schob ihren Stuhl zurück.
»Du entschuldigst mich für einen Moment, John.«
»Sicher.«
Nicht nur ich schaute ihr auf dem Weg zu den Toiletten nach, auch andere Blicke verfolgten den Weg der außergewöhnlichen Frau, die ich sehr mochte und deshalb nicht in eine unmittelbare Gefahr bringen wollte.
Allein blieb ich zurück und fühlte mich trotz des vollbesetzten Lokals ziemlich einsam. Dabei überkam mich der Eindruck, beobachtet zu werden. Es war nur ein vager Hauch, der mich da getroffen hatte, aber ich wurde ihn nicht los.
Rechts von mir befand sich die Wand. Wenn ich mich nach links drehte, konnte ich in das Lokal hineinschauen, sah aber kein bekanntes Gesicht. Dennoch blieb das ungute Gefühl, und auf meinem Rücken spürte ich die leichte Gänsehaut.
Die Bedienung kam, räumte ab und erkundigte sich, ob es mir geschmeckt hatte.
»Ja, sehr gut. Ich möchte dann auch gleich zahlen.«
»Gern.«
Die junge Frau holte die Papierstreifen mit den aufgedruckten Zahlen aus dem kleinen Glas von der Tischmitte, rechnete zusammen, und ich beglich die Summe. Sie hatte mir kaum einen schönen Tag gewünscht, da kehrte Jessica zurück.
»Du hast schon gezahlt?«
»Ja.«
»Das ist gut.« Sie setzte sich nicht erst hin, sondern schaute durch die breiten Fenster nach draußen.
»Das Wetter ist zu schön, um die Stunden in einem Hotelzimmer zu, verleben. Ich werde noch ein bißchen bummeln gehen. Was ist mit dir? Willst du mit oder…?«
Sie hatte den Satz so ausgesprochen, daß ich deutlich merkte, wie gern sie allein bleiben wollte. Ich tat ihr auch den Gefallen und erklärte, daß ich im Hotel ein Bad nehmen wollte.
»Das wird dir guttun.« Sie küßte mich auf die Wange. »Bis später dann, John.«
Sehr schnell war Jessica verschwunden, und ich schritt dem Ausgang wesentlich langsamer entgegen. Diesmal dachte ich nicht über dämonische Feinde nach, sondern beschäftigte mich mehr mit Jessica und ihrem Verhalten.
So komisch es sich anhörte und obwohl sie mir das Leben gerettet hatte, kam sie mir doch irgendwie verändert vor. Sie war nicht mehr so wie in London. Sie reagierte nicht selbstbewußter, sondern kälter oder auch härter.
Möglicherweise war die Idee, mit ihr einen Urlaub zu verbringen, doch nicht so gut gewesen. Oder hatte ich mich ihr gegenüber falsch verhalten? Hatte sie mehr von mir erwartet? Das konnte natürlich
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