0742 - Der Junge mit dem Jenseitsblick
normal. Es kam auf den Blickwinkel an.
Ich hatte viel Zeit gehabt und mir die entsprechenden Gedanken gemacht. Zu einem Ergebnis war ich nicht gekommen, doch mittlerweile stand für mich fest, daß der plötzliche Einbruch nicht mit rechten Dingen zugegangen war. Da hatte jemand daran gedreht. Welche Kraft es war, wußte ich nicht, ich hatte mir nur vorgenommen, mich wieder zu bewaffnen, sobald ich im Hotel eingetroffen war, und die nächsten Tage keineswegs als einen Urlaub anzusehen.
In Höhe der Post blieben wir stehen. Neben uns befand sich ein Kiosk, an dem viel Betrieb herrschte.
»Nun, John, wo willst du essen?«
»Mach du einen Vorschlag.«
Jessica schleuderte ihr Haar zurück und drehte sich um. Sie deutete mit dem Zeigefinger die Straße hoch. »Falls die Dusche noch warten kann, würde ich vorschlagen, das Café dort vorn zu besuchen. Sie haben auch Mittagstisch, wie ich auf der Tafel lesen kann.«
»Nichts dagegen.«
Das Café-Restaurant hatten wir in knapp einer Minute erreicht. Auf der sonnigen Südterrasse war leider kein Platz mehr frei, wir mußten schon in den Bau selbst eintauchen, in dem uns eine verrauchte und muffige Luft empfing, die keinem Vergleich zu der draußen standhielt.
Wir fanden in der Ecke einen freien Zweiertisch, was gut war. Ich wollte nicht, daß sich noch jemand zu uns setzte. Seltsamerweise verspürte ich einen mächtigen Durst und bestellte mir zunächst ein Bier, bevor ich mich mit der Speisekarte beschäftigte.
Jessica trank ein Glas Wein.
Jeder las in seiner Karte. Jessica entschied sich für einen Salat mit Roastbeef und ich mich für einen Teller, der mit Graubündner Wurst belegt war. Dazu gab es Brot.
Jessica Long nickte mir zu. »Ehrlich gesagt, irgendwie bewundere ich dich, John.«
»Wieso?«
»Wegen deiner Nerven. Dein Einbruch ins Eis hätte auch ins Auge gehen können. Du bist entkommen…«
»Mit deiner Hilfe…«
»Ja, ja, schon gut, und jetzt ißt du hier zu Mittag, als wäre überhaupt nichts gewesen.«
Ich hob die Schultern. »Was der Mensch braucht, das braucht er nun mal, meine Liebe.«
»Machst du dir keine Gedanken?«
Ich trank einen Schluck Bier und stellte das Glas auf den Deckel. »Natürlich denke ich über alles nach, sehr intensiv sogar. Zu einem konkreten Ergebnis bin ich leider noch nicht gekommen, wobei ich jedoch annehme, daß der Einbruch in das Eis nicht normal gewesen ist. Du hast Sekunden vorher die Stelle passiert, und dir ist nichts geschehen. Warum nicht, frage ich dich?«
Jessica blickte mich entwaffnend an.
»Keine Ahnung, John, wirklich nicht.«
»Das glaube ich dir sogar.«
»Und was ist deine Folgerung?«
Ich holte tief Luft. »Ich kann es dir sagen, auch wenn es mir schwerfällt.«
»Bitte.«
»Meine Gegner haben mich mal wieder aufs Korn genommen. Hier braut sich etwas zusammen, das noch unsichtbar über unseren Köpfen liegt, und es ist zu überlegen, ob wir diese Herausforderung gemeinsam annehmen.«
Mein Gegenüber verengte seine Augen. »Kannst du dich da nicht etwas deutlicher ausdrücken?«
»Schon.«
»Dann tu es auch.«
Ich beugte mich vor. »Jessica«, flüsterte ich mehr, als daß ich normal sprach. »Ich möchte dich nicht in Gefahr bringen. Es ist furchtbar, wenn ich mir vorstelle, daß dir etwas passiert. Dazu in einem Urlaub, zu dem du mich überredet hast. Du weißt nicht erst seit heute, daß ich für dich - mögen wir zueinander stehen wie auch immer - zu einem Risikofaktor geworden bin. Meine Nähe ist für außenstehende Personen ziemlich gefährlich, das weißt du.«
»Sicher, ich weiß es.« Sie lehnte sich zurück, was ich als kein gutes Zeichen ansah. »Das weiß ich sogar sehr genau, und ich kann dir auch folgen. Laß es mich mit meinen Worten in einem einzigen Satz zusammenfassen. Du möchtest mich loswerden.«
Ich schwieg. Aber nicht, weil ich ihr keine Antwort geben wollte, sondern weil unser Essen kam.
Die Kellnerin stellte den Salatteller vor Jessica und den Wurstteller vor mich hin. Ich bekam große Augen, als ich sah, was sich dort an Schinken, Mortadella und Salami sowie trockenem Bündnerfleisch so alles verteilte.
»Das ist zuviel«, flüsterte ich.
»John, du bist mir noch eine Antwort schuldig.«
»Weiß ich. Jessica, ich möchte dich nicht loswerden. Ich denke nur an die Gefahren, die sich plötzlich hier aufgetan haben. Mag der Ort noch so herrlich gelegen sein, darauf nehmen Dämonen keine Rücksicht. Ich sehe diesen Einbruch in das Eis als einen Anschlag auf
Weitere Kostenlose Bücher