0742 - Der Junge mit dem Jenseitsblick
verändert«, sie schob das Rollo hoch, »werden wir dieses Abteil leise verlassen.«
Elohim nickte.
Am Fenster saßen sie sich gegenüber und schauten beide nach draußen. Dagmar in Fahrtrichtung.
Sie fuhren sehr schnell durch die Oberrheinische Tiefebene. Von den Höhen des Schwarzwaldes war in der Dunkelheit nichts zu erkennen.
Manchmal durchfuhren sie einen einsamen und leeren Bahnhof. Leider so schnell, daß Dagmar die Hinweisschilder nicht lesen konnte.
Tiefe Finsternis ohne Lichter, bis Dagmar weit entfernt einen helleren Schein zu entdecken glaubte.
War es Freiburg?
Wenig später verlor der Zug an Tempo.
Sie nickte Elohim zu, der sofort aufstand. »Jetzt müssen wir uns nur noch einmal die Daumen drücken.«
So leise wie möglich verließen sie das Abteil. Und so leise wie möglich durchschritten sie auch den Wagen und näherten sich einem anderen Ausstieg.
Zweimal schauten sie zurück.
Niemand war da, der ihnen folgte.
Es wollte auch niemand in Freiburg außer ihnen aussteigen. Nur zwei Leute stiegen ein. Aber weit vor ihnen. Dagmar sah es, als sie schon auf dem Bahnsteig stand. Sie winkte ihrem Schützling, der nach draußen sprang. Sofort faßte sie ihn unter und drückte die Wagentür mit der freien Hand sehr behutsam zu.
Dann lief sie so schnell wie möglich mit dem Jungen in die Deckung eines Pfeilers, wo sie stehenblieben und erst einmal tief durchatmeten.
Der Zug fuhr wieder an.
Sie freuten sich beide, als die Schlange der Wagen an ihnen vorbeiglitt. Erst als der Zug in der Dunkelheit verschwunden war, lösten sie sich aus der Deckung und gingen auf die Treppe zu. Einige Frühaufsteher befanden sich bereits auf den Bahnsteigen. Sie hockten, zumeist frierend auf den Bänken und warteten auf die ersten Nahverkehrszüge, die sie zu ihren Arbeitsstellen brachten.
Die Personen hatten für den Jungen und die Frau keinen Blick.
Vor dem Bahnhof blieb Dagmar stehen und stellte ihre Tasche ab. Leere und Kälte waren erschreckend. Einige Taxen standen im bläulichen Licht einer Lampe.
»Wie geht es jetzt weiter?« flüsterte Elohim.
»Keine Sorge, wir werden abgeholt.«
»Wann?«
»Unsere Freunde müßten eigentlich schon unterwegs sein«, murmelte Dagmar. Dabei schaute sie sich auf dem Bahnhofsvorplatz um, weil der Wagen dort herfahren mußte.
Sie gingen einige Meter weiter und blieben im Schatten einer überdachten Haltestele stehen.
Dann rollte er endlich heran. Dunkel, kantig. Wie ein metallenes Raubtier mit zwei kalten Glotzaugen. Es war eine schwere Volvo-Limousine, die neben ihnen hielt.
Dagmar öffnete die Tür.
Kein Licht erhellte das Innere. Vom Beifahrersitz fragte jemand mit Flüsterstimme. »Ist alles gutgegangen?«
»Sicher.«
»Dann steigt ein.«
Sie schob den Jungen zuerst in den Fond. Sie kletterte hinterher und hatte kaum ihren Platz eingenommen, als das Fahrzeug bereits startete. Der Weg war vorgezeichnet.
Er führte in Richtung Süden, auf die Grenze zu…
***
Als wir den Ort Pontresina erreicht hatten, blieb ich stehen und stellte die Tüte ab. Ich war dermaßen ins Schwitzen gekommen, daß ich nicht mehr meine Jacke trug, der Pullover wärmte mich genug. Einige Male hatte ich geniest, hoffte allerdings, mir keine Erkältung eingefangen zu haben, denn auf die konnte ich verzichten.
»Matt?« fragte Jessica.
»Kaum.«
»Dann komm weiter.«
Ich warf einen Blick auf die Uhr. »Es ist Mittag. Sollen wir etwas zu uns nehmen?«
»Hast du denn Hunger?«
»Ja.«
»Ich esse nur eine Kleinigkeit.«
Wir gingen wieder weiter und passierten unser Hotel, das sich auf seiner Vorderseite als offenes Karree präsentierte und auf dessen Dach eine Krone glänzte.
Sein Zeichen.
Das graue Gemäuer war nicht jedermanns Geschmack. Aber in dieser Gegend stammten fast alle Hotels ungefähr aus derselben Zeit und waren im neoklassizistischen Stiel errichtet worden, mit hohen Räumen, großen Sälen und Hallen, denn schon im letzten auslaufenden Jahrhundert war das obere Engadin von den Feriengästen entdeckt worden.
Der Weg führte bergan und auch in das Zentrum von Pontresina hinein.
Es war wie überall.
Zahlreiche Geschäfte, Hotels, klein oder groß, Ferienwohnungen, die allesamt vermietet waren, und als Mittelpunkt außerhalb des tiefer liegenden Bahnhofs eine Post. Ihr gegenüber befand sich eine Bushaltestelle, die laufend angefahren wurde. Die meisten Urlauber und Skifahrer verließen sich auf dieses Transportmittel.
Es war alles so herrlich oder auch schrecklich
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