0742 - Der Junge mit dem Jenseitsblick
machte sie so starr, als wollte sie sich direkt in einen für sie parat stehenden Sarg legen.
Dabei blieb sie auf dem Boden stehen und nickte Elohim einige Male zu. »Du weißt jetzt immer mehr, aber nicht einmal die Hälfte. Ich bitte dich, nicht neugierig zu sein und alles in Ruhe abzuwarten. Deine große Zeit wird noch kommen.«
»Ja«, flüsterte er, »meine Zeit. Aber was ist meine Zeit? Wie kann ich als Kind…?«
»Später, mein Lieber, später. Zunächst einmal hast du sehen können, wie ich den Kugeln entging. Es war für mich wirklich keine Kunst, und ich bin nicht einmal stolz darauf gewesen.«
»Dazu kann ich nichts sagen.«
»Ich weiß es.«
Elohim hatte sich wieder hingesetzt, da er das Gefühl hatte, seine Beine wären bleischwer geworden. Durch seinen Kopf huschten zahlreiche Gedanken, nur schaffte er es nicht, sie in eine bestimmte Reihenfolge zu bringen. Es war alles so unverständlich für ihn geworden, so anders und nicht zu fassen.
Inzwischen hatte er erkannt, daß es sich um ihn drehte und daß er etwas Besonderes war. Das akzeptierte er auch, mehr aber nicht, denn er wollte nicht länger darüber nachdenken.
Später vielleicht…
Dagmar legte ihm eine Hand auf die Schulter. Elohim zuckte unter der Berührung zusammen.
»Was ist los mit dir?«
»Ich weiß es nicht.«
»Du brauchst keine Furcht zu haben. Wir sind stärker als andere. Mit dir zusammen sind wir wunderbar. Da kann uns niemand etwas anhaben, das solltest du wissen.«
Der Junge nickte und senkte dabei seinen Kopf. Das dunkle Haar fiel weit nach vorn und blieb in der Stirn hängen. Seine anderen Gedanken und Vorstellungen waren weit weggedrückt worden, er konzentrierte sich wieder mehr auf die Gegenwart. »Da ist noch ein Toter im Nachbarabteil, Dagmar…«
»Ich weiß.«
»Man wird ihn finden.«
Sie lächelte. »Stimmt.«
»Und das macht dir nichts aus?«
»Nein, mir nichts und dir nichts. Wenn sie ihn finden, sind wir nicht mehr im Zug. Wir verlassen ihn in Freiburg.«
Das war für Elohim neu. Darüber mußte er erst einmal genauer nachdenken. Zu viele Widersinnigkeiten fielen ihm ein. Er wollte sie Dagmar mitteilen, die aber hatte längst gewußt, um was sich seine Gedanken drehten und die entsprechenden Erklärungen sowie Antworten parat. »Es wird alles ganz locker laufen. Wenn wir in Freiburg den Zug verlassen haben, werden wir schon von Freunden erwartet, die uns über die Grenze fahren. Wir nehmen für den Rest der Strecke ein Auto.«
Elohim schwieg. »Ein Auto«, murmelte er dann. »Über die Grenze hinweg, ich weiß…«
»Hast du Angst?«
»Nein, das nicht. Aber was ist mit den Ausweisen? Man hat sie uns abgenommen.«
»Wir bekommen neue. Es ist für alles gesorgt. Wir haben alles einkalkuliert.«
»Man weiß nicht, wohin wir reisen.«
»Na und?«
»Man wird im Hotel erscheinen und Nachforschungen anstellen. Die Polizei ist nicht so dumm.«
»Sie kann ruhig kommen. Bis es soweit ist, haben wir den großen Sieg errungen.«
So sicher wie Dagmar war der Junge nicht, aber er beschloß, den Mund zu halten, da er die Gouvernante nicht durch weitere Befürchtungen verunsichern wollte.
Dagmar streichelte über sein Haar. »Immer noch Angst?«
»Weiß nicht.«
»Komm, wir packen zusammen, das wird dich ablenken.«
»Das ist aber nicht viel.«
»Nein, ich habe an alles gedacht.«
Sie schaute zu, wie Elohim seine Schuhe anzog. Er war sehr nachdenklich und beschäftigte sich noch immer mit dem Toten.
»Denkst du an den Mann drüben?«
»Ja, er ist so anders gestorben. Zwar gewaltsam, aber trotzdem nicht so, daß es aussieht wie Mord.«
»Richtig. Daran habe ich auch gedacht. Die Polizei wird vor einem Rätsel stehen. Bei ihm ist eben die Lunge geplatzt, das werden sie herausbekommen, mehr auch nicht. Wenigstens vorläufig nicht.«
»Können wir die Ausweise nicht trotzdem zurückholen?«
»Der Wagenbegleiter hat sie in einem Safe eingeschlossen. Es tut mir leid.«
»War nur eine Frage.«
Bis zum nächsten Halt hatten sie noch Zeit. Dagmar gab dem Jungen gewisse Verhaltensregeln, die er sich gut merken sollte. Er durfte auf keinen Fall irgendwelche Fehler begehen, vor allen Dingen dann nicht, wenn sie den Zug verließen. »Und wir werden aus einem anderen Wagen aussteigen. Das ist sicherer.«
»Finde ich auch.«
Dagmar schaute auf die Uhr. »Baden-Baden müßte eigentlich hinter uns liegen. Es kann nicht mehr lange dauern, bis wir in Freiburg eintreffen. Sobald sich die Gegend etwas
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