0745 - Angst über Altenberg
sein können. Daß sie es trotzdem nicht wahr, spürte er instinktiv. Es war auch kein Erwachsener, sondern etwas völlig anderes.
Die Gestalt wanderte auf ihn zu. Sie kicherte…
Es war ein leises, dennoch schrilles Geräusch, und sie erreichte auch den Rand des Lichtscheins.
Dort blieb sie stehen.
Elohim konnte sie erkennen, und diese Erkenntnis traf ihn wie ein Hammerschlag.
Vor ihm stand eine Hexe!
***
Es war nicht zu fassen, es war nicht zu glauben, aber für den Jungen wurden in diesem Moment die alten Märchen wahr, die man ihm früher oft erzählt hatte.
Anders als hier sah auch die Märchenhexe nicht aus, die möglicherweise als Figur sonst in dem nicht allzu weit entfernten Märchenwald stand. War sie durch eine unheilige Kraft zum Leben erweckt worden, um aus ihrem Bereich zu fliehen?
Elohim konnte es nicht sagen, aber es war alles möglich, denn dieser böse Zauber wurde von keinem Menschen gesteuert. Da steckten andere Kräfte dahinter.
Über das hämische Kichern der Hexen war auch in den Märchen geschrieben worden, und genau dieses Geräusch wehte ihm abermals entgegen, so daß er zusammenzuckte.
Dann ging sie vor.
Er konnte sie besser sehen und hätte am liebsten die Augen geschlossen. Es war ihm nicht möglich.
Eine fremde Kraft hatte bei ihm den Befehl übernommen, und er mußte so handeln, wie diese andere Kraft es wollte. Deshalb gelang es ihm nicht, den Blick von der Waldhexe zu nehmen. Er bohrte ihn in ihre bösen Augen.
Ja, sie waren böse. In ihnen lag ein höllischer Triumph. Sie schimmerten wie alte Tümpel, auf deren Oberfläche sich ein schwachglänzender Ölfilm gelegt hatte. Ein uraltes Gesicht, fast nur aus Falten bestehend, paßte ebenfalls zu ihr. Wie auch die lange und krumme Nase, die wie ein Höcker nach vorn sprang, und deren Spitze beinahe die vorgeschobene lappige Unterlippe berührte. Sie sah ebenfalls aus wie eine weiche alte Rinde. Natürlich hatte die Hexe einen Buckel. Sie ging gekrümmt.
Beinahe bildeten Rücken und Kopf eine Ebene. Sie trug einen dunklen Umhang, der auch den Kopf bedeckte und nur das Gesicht freiließ, denn die Boshaftigkeit sollte nicht verborgen bleiben.
Die Hexe streckte ihre Arme aus.
Sie tat es genüßlich. Es sah so aus, als würden sie sich intervallweise verlängern, aber auch die Hände, denn die Finger waren nach vorn gestreckt.
Elohim konnte sie gut erkennen, er sah auch die krummen Spitzen der Nägel. Schauderte zusammen, wenn er sich vorstellte, daß diese Nägel seine Gesichtshaut aufrissen.
Für ihn dehnten sich die Sekunden zu Minuten. Er schaffte es auch nicht, sich zu bewegen, sondern blieb mit dem Rücken gegen den Baumstamm gedrückt, als hätte man ihn dort angenagelt.
Wieder kicherte die Hexe. Diesmal nicht so lang. Sie stoppte das Geräusch, um sprechen zu können.
»Elohim, der Gott, der Götze. So hat man dich genannt.« Sie krächzte und schüttelte den Kopf so heftig, daß die alten, weißgrauen Haarsträhnen von rechts nach links wegflogen.
Elohim wunderte sich, daß er die Kraft fand, um sprechen zu können. »Was willst du?« flüsterte er.
»Wer bist du? Was ist mit mir? Warum bist du gekommen, und woher kennst du mich?«
Die Hexe lachte. Dann gab sie eine Antwort, die mehr nach einem Krächzen klang, so daß der Junge Mühe hatte, die Worte überhaupt zu verstehen. »Ich weiß von dir. Ich weiß, daß du einmal hier gewesen bist. Daß in dir etwas steckt…«
»Weißt du mehr?«
»Ja, zwei Seelen. Die eine von deiner Mutter, die andere von deinem Vater.«
Plötzlich fühlte er sich wie von einem Fieberstoß erwischt. Die Hexe hatte seine Eltern erwähnt.
Wenn sie das tat, dann mußte sie auch wissen, wer sie waren und wie sie hießen. Er holte hektisch und trotzdem stockend Atem. »Ich kenne meine Eltern nicht, ich suche sie. Kannst du mir nicht sagen, wer sie sind? Wer ist meine Mutter, und wer ist mein Vater? Ich will von dir eine Antwort haben.«
»Nicht so voreilig, mein Kleiner, die bekommst du schon.«
»Wer ist die Mutter?«
»Es war die auf meiner Seite.«
»Die Böse, nicht?«
»Das sagst du…«
»Und wer ist mein Vater?«
Die Hexe verzog ihr breites Maul. »Der andere!« preßte sie hervor. »Einer, den ich hasse.«
Elohim mußte sich überwinden, um die entscheidende Frage zu stellen.
»Und was bin ich? Wer bin ich dann? Kannst du mir das nicht sagen, Hexe?«
Sie schüttelte den Kopf, als hätte sie Ekel gefunden. »Du… du… bist ein Produkt«, erklärte sie
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