075 - Der Spinnenküsser
die Lebenskraft aus Ihrem Körper. Innerhalb einer Nacht sind Sie zu einer Greisin gealtert."
„Sie bluffen", krächzte Beatriz, doch ihre Augen waren vor Entsetzen geweitet.
„Wollen Sie es auf einen Versuch ankommen lassen?" fragte Coco spöttisch.
Die Vampirin wich einen Schritt zurück.
„Nein", hauchte sie.
„Dann gehorchen Sie mir, Beatriz!"
Die Farbige nickte und lief an Coco vorbei die Stufen zu den Zimmern hoch. Coco sah ihr nachdenklich nach.
„Was wollte Abadie von Ihnen?" erkundigte sich Harry interessiert, als sich Coco an den Tisch setzte.
„Er warnte mich", antwortete Coco. „Jemand trachtet uns nach dem Leben."
„Jetzt beginnen Sie schon wieder mit diesem Unsinn", schnaubte Harry.
Coco war mit ihren Gedanken weit fort. Sie beachtete Harry nicht, der immer erregter auf sie einsprach. Sie mußte mehr Informationen über den Spinnenküsser bekommen, damit sie sich ein klares Bild über ihren Gegner machen konnte. Auf jeden Fall war der Spinnenküsser gefährlich; da gab es keinen Zweifel. Er würde aus dem Hinterhalt operieren und sich kaum einem offenen Kampf stellen.
„Sie hören mir ja gar nicht zu, Coco!" sagte Harry anklagend.
Coco sprang plötzlich auf. Ihr war etwas Wichtiges eingefallen, was sie Barrabas zu fragen vergessen hatte.
„In zehn Minuten treffen wir uns beim Autobus, Harry!" rief sie dem jungen Deutschen zu.
Dann machte sie sich auf die Suche nach Barrabas, den sie schließlich in seinem Zimmer fand.
„Ihr Bruder ist doch im Hotel, oder?"
„Nicht mehr", antwortete Barrabas. „Nach unserer Unterhaltung zog er aus."
„Da kann man nichts machen", sagte Coco enttäuscht. „Sie wissen nicht, wo er jetzt ist?"
„Leider nein. Er wird sich irgendwann mit mir in Verbindung setzen, aber wann, das kann ich nicht sagen."
Coco nickte Barrabas zu und holte ihr Gepäck aus dem Zimmer.
Während der Fahrt zum Kongreßort hatte Harry unentwegt Fragen gestellt, bis Coco die Geduld gerissen war und sie ihm gesagt hatte, daß er endlich für einige Zeit den Mund halten sollte. Harry lehnte jetzt beleidigt in seinem Sitz und hatte die Lippen trotzig zusammengepreßt.
Der „Weltkongreß für Schwarze und Weiße Magie" fand in einem alten verlassenen Fort statt, das östlich von Port-au-Prince lag und schon öfter als Tagungsort für verschiedene Veranstaltungen gedient hatte.
Das Fort war ein gewaltiges Gebäude. Es hatte die Form eines Vierkanthofes. Jede Front war etwa zweihundert Meter lang. Das eigentliche Kongreßzentrum lag im Innenhof. Hier waren unzählige Buden und Zelte aufgestellt, in denen Liebes-, Heil- und Zaubertränke verkauft wurden. Es wurden auch andere Gegenstände der Magie angeboten: Kristallkugeln, Amulette und Talismane, einbalsamierte Krötenherzen, Vampirzähne, Alraunen, Haare und Fingernägel von berühmten Persönlichkeiten, seltene Kräuter, Totenköpfe von Hingerichteten, Schrumpfköpfe, Friedhofserde, etc. Aber das war nicht alles. Zusätzlich gab es natürlich Fachliteratur zu kaufen. Wünschelruten und Pendel fehlten auch nicht. Wer Lust hatte, konnte sich aus der Hand lesen, sich aus Karten weissagen, oder sein Horoskop erstellen lassen.
Neben den Kongreßteilnehmern drängte sich das lokale Publikum zwischen den Kojen und Zelten herum. Zu den Vorträgen und Darbietungen hatten jedoch nur Kongreßmitglieder Zutritt.
Langsam aber sicher wurde Harry Gottlieb Coco lästig. Er folgte ihr wie ein gut dressierter Hund und wurde für Coco zu einer echten Belastung, da sie keine Lust hatte, als sein Kindermädchen zu fungieren. Doch Harry war hartnäckig. Er ließ sich nicht abschütteln, und schließlich resignierte Coco. Sie mischten sich unter die Menge, die sich täglich während des Kongresses bis Mittag im Fort aufhalten durfte.
Zusammen mit Harry nahm sie das Mittagessen in einem der Speisesäle ein. Harry hatte einige seltsame Gegenstände gekauft, die er während des Essens genau begutachtete.
Coco sah einige Bekannte aus der Schwarzen Familie, die sie aber nicht beachteten. Ihrer Schätzung nach nahmen mindestens hundert Dämonen am Kongreß teil.
Nach dem Essen nahmen sie im großen Kongreßsaal Platz, der sich langsam füllte.
Coco griff nach dem Programmheft und blätterte es flüchtig durch. Das Tagungsprogramm bestand aus seriösen und pseudowissenschaftlichen Vorträgen, vor allem aus den verschiedensten Darbietungen von Zauberern, Wahrsagern, Chiromanten und Magiern.
Harry studierte das Programm eingehender. Immer
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