075 - Der Spinnenküsser
halten."
„Probieren Sie es! Vielleicht können Sie mich überzeugen."
„Ich werde es versuchen", sagte Coco.
Wieder bemühte sie sich, Harry zu hypnotisieren - und wieder hatte sie keinen Erfolg damit. Sie strich sich nachdenklich über die Lippen. Coco wußte ganz genau, daß ihr und Harry Gefahr drohte. Um sich selbst machte sie sich nur wenig Sorgen; sie konnte sich ihrer Haut wehren. Aber bei Harry war das anders. Er hatte keine Ahnung, was auf ihn zukam. Und es war zwecklos, ihm alles zu erklären. Was hätte sie ihm auch erzählen sollen? Daß sie eine ehemalige Hexe war, die man aus der Schwarzen Familie ausgestoßen hatte?
Sie war froh, als Barrabas Abadie vor ihr stehenblieb. Der kleine, unscheinbare Mann deutete eine Verbeugung an.
„Guten Morgen!" sagte er mit zittriger Stimme. „Ich muß dringend mit Ihnen sprechen, Fräulein Zamis."
„Nehmen Sie Platz!" sagte Coco freundlich.
Abadie schüttelte den Kopf. „Ich will allein mit Ihnen sprechen."
Coco stand auf. „Entschuldigen Sie mich, Harry!"
Sie steckte das Warnschreiben in ihre Tasche und folgte Abadie, der die Hotelhalle betrat und einen ungestörten Platz suchte.
„Sie sind in Gefahr, Fräulein Zamis", sagte Abadie aufgeregt, als sie sich gesetzt hatten.
„In Gefahr?" Coco hob die rechte Braue fragend.
„Ja in großer Gefahr", sagte Abadie eifrig. „Mein Bruder will Sie töten!"
„Ihr Bruder?"
Abadie nickte. „Sie töteten einige seiner Spinnen. Er schwor, daß er Sie und Harald Gottlieb töten würde."
„Und weshalb warnen Sie mich? Sie können mit doch nicht einreden wollen, daß Ihnen irgend etwas an meinem Schicksal liegt."
„Stimmt. Wenn ich ehrlich sein soll, dann ist es mir völlig gleichgültig, ob Sie am Leben bleiben oder sterben."
„Weshalb dann die Warnung?"
„Vielleicht können Sie mir helfen. Warten Sie! Lassen Sie mich aussprechen! Mein Bruder und ich sind seit vielen Jahren verfeindet. Um ganz offen zu sein: wir hassen uns. Das wird Ihnen jeder bestätigen, der über die Familie Abadie Bescheid weiß."
„Weshalb hassen Sie Ihrem Bruder?"
„Das ist eine lange Geschichte", antwortete Abadie leise. „Vor vielen Jahren begehrten wir das gleiche Mädchen. Damals lebte noch unser Vater. Mein Bruder und ich taten alles, um die Gunst des Mädchens zu gewinnen. Mein Bruder bediente sich unsauberer Methoden. Schließlich griff unser Vater ein. Er war von meinem Bruder sehr enttäuscht. Das Mädchen war eine Hexe aus einer unbedeutenden französischen Familie. Sie entschied sich für mich, und wir feierten eine Schwarze Hochzeit. Mein Bruder war wütend, daß unser Vater in den Streit eingegriffen hatte, aber besonders erboste es ihn, daß sich Denise - so hieß das Mädchen - für mich entschieden hatte. Es kam zum offenen Bruch. Mein Bruder verließ uns. Mein Vater änderte sein Testament. Er hinterließ alles mir, darunter auch einige Papiere, die sehr wertvoll sind und die mein Bruder unbedingt haben wollte. Doch ich weigerte mich, sie ihm zu geben, und sein Haß wurde immer größer. Er schwor mir Rache und unternahm einige Anschläge auf mich. Ich konnte seinen Fallen entkommen. Einige Jahre lang hörte ich nichts von ihm, aber ich wußte, daß er nur auf eine Schwäche meinerseits wartete. Ich zog mich mit Denise und unserem Sohn Zymunt in ein einsames Haus zurück. Mein Sohn war in der Zwischenzeit schon fast erwachsen. Nichts geschah, und unsere Wachsamkeit ließ nach.
Vor einem halben Jahr mußte ich nach London. Ich ließ meinen Sohn allein. Auf diesen Augenblick hatte mein Bruder gewartet. Er entführte meinen Sohn."
Abadie schloß die Augen. Seine Lider zitterten.
„Als ich nach Hause kam, fand ich im Schlafzimmer meines Sohnes ein junges Mädchen. Sie war halb gelähmt, konnte aber sprechen. Mein Bruder hatte alles sehr geschickt inszeniert. Das Haus war mit magischen Fallen gesichert. Kein Mitglied der Schwarzen Familie und kein Mensch hätte es ungesehen betreten können, doch mein Bruder hatte seine Spinnen geschickt. Sie lähmten meinen Sohn und das Mädchen.
Dann schleppten riesige Vogelspinnen meinen Sohn aus dem Haus. Seither habe ich nichts von Zymunt mehr gehört."
„Erzählen Sie weiter!" bat Coco.
„Es gibt nicht mehr viel zu erzählen. Ich wußte, daß mein Bruder hinter der Entführung steckte, doch er meldete sich nicht bei mir. Ich versuchte ihn zu erreichen, doch er war spurlos verschwunden. Vor einigen Tagen meldete er sich schließlich telefonisch. Mein Sohn sei
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